Vertragsverhandlungen mit Bundestrainer: Hasardeur will mehr
Julian Nagelsmann begreift seine Arbeit im DFB plötzlich als langfristiges Projekt. Das setzt den Verband unter Druck.
I m Fußball wird sehr häufig ein Begriff bemüht, der für die Branche symptomatisch zu sein scheint: die Momentaufnahme. Im Nu kann sich etwas verändern. Wenn die Aufnahme vom Gesamtgeschehen eben noch verwackelt war, dann wird sie plötzlich scharf und konturiert. Und so ist es auch jetzt beim Nationalteam. Die Momentaufnahme des DFB-Teams strahlt nach dem Auftritt in Lyon in den buntesten Farben, das Grau der Vorwochen wurde dick übertüncht – und die Fußballfans im Lande malen sich jetzt sogar schon eine dufte Europameisterschaft in Berlin, München oder Stuttgart aus.
Julian Nagelsmann hat mit seiner Entourage den Schnappschuss, über den die Fußballwelt staunt, erstellt. Er will garantieren, dass die Momentaufnahme, und mehr ist es ja noch nicht, zu einem Film wird, der in Dauerschleife läuft. Nagelsmann, dessen Vertrag nur bis zum Ende der Europameisterschaft geht, will weitermachen, für Kontinuität sorgen. Offenbar ist ihm in den vergangenen Wochen klar geworden, dass hier ein Projekt angestoßen werden kann.
Dass Nagelsmann seinen Willen, länger Bundestrainer sein zu wollen, schon vor dem Frankreich-Spiel formulierte und damit den Fußball-Bund ohne statistischen Leistungsnachweis unter Druck setzte, zeigt, was für ein Typ er ist: Wenn es um ihn und sein Fußballding geht, kann er zum Hasardeur werden. Was wäre denn gewesen, wenn seine Elf nun verloren hätte, in alte Muster zurückgefallen wäre?
Das schien für Nagelsmann außerhalb des Denkbaren zu liegen. Sein Mut, manche sagen: seine Dreistigkeit, wurde belohnt. Er hat die besten Karten in der Hand. Und nun ist der Deutsche Fußball-Bund am Zug, ihn mit einem lukrativen und längerfristigen Vertrag zu versorgen. Denn wie auch schon Nagelsmann geschickt andeutete: Er könnte ja ganz schnell von einem europäischen Großklub verpflichtet werden. Da muss der Verband wohl schnell sein, was auch DFB-Präsident Bernd Neuendorf erkannt hat.
Selbsterzeugte Euphorie
Der Funktionär mit SPD-Politikhintergrund scheint keine Scheu vor neuen Vertragsverhandlungen zu haben, obwohl er da schon einmal Schiffbruch erlitten hat. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg wurde vor der Frauen-WM 2023 mit einem neuen Vertrag ausgestattet; das Turnier verlief dann enttäuschend. Voss-Tecklenburg verlor den Posten. Auch der ursprünglich bis Juli 2024 gültige Alt-Vertrag mit Ex-Bundestrainer Hansi Flick kam dem DFB, finanziell ohnehin angeschlagen, teuer zu stehen. Wenn das diesjährige Turnierabenteuer mit Nagelsmann schiefgeht, dann ziehen sehr dunkle Wolken über dem DFB-Campus in Frankfurt am Main auf.
Aber daran denkt offensichtlich keiner mehr. Man hat sich mit allerlei Marketing- und Teambuilding-Maßnahmen selbst euphorisiert. Dass dies nicht nur Voodoo war und Phrasendrescherei, hat man nun in Frankreich bestaunen dürfen. Das Team wirkt urplötzlich stabil, wo es eben noch labil war. Es wirkt selbstbewusst, wo es vor Kurzem noch zaudernd auftrat. Dass sich dieser Zustand der blanken Zuversicht nicht wieder in Luft auflöst, buchstäblich zur Momentaufnahme wird, ist der Job von Julian Nagelsmann. Weil er auf seine Art disruptiv und draufgängerisch ist, könnte das sogar was werden.
Schon einmal, 2006, gab es diesen Moment des Neuanfangs. Damals wuchs ein Team auf dem Humus patriotischer Begeisterung über sich hinaus, heute reichte es schon, wenn die Elf um Toni Kroos, Jamal Musiala und Florian Wirtz ihr Potenzial ausschöpft. Kicken können sie. Sie müssen es nur gemeinsam tun.
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