Verteilung von Schulplätzen: Losen und gerecht sein
Entrüstung in Berlin, weil das Land die Hälfte der Plätze an weiterführenden Schulen per Los verteilen will. Nun stellt sich heraus: Es ist das vorerst fairste Verfahren.
Die SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hat nach öffentlicher Kritik in der Auseinandersetzung um die Losquote für beliebte Schulen eingelenkt. Am Dienstag entschied sie auf einer Sitzung mit knapper Mehrheit, statt 50 nur 25 Prozent der Plätze per Los zu vergeben.
***
Strukturprobleme
In Hamburg und Berlin gibt es derzeit die heftigsten Auseinandersetzungen: Eltern protestieren dort gegen die Errichtung einer gerechten Schulstruktur. In den beiden Stadtstaaten und Bremen gibt es die schlechtesten Hauptschulen, daher sollen diese abgeschafft werden. Sie werden mit Realschulen und Gesamtschulen zu pädagogisch anspruchsvollen Sekundar- bzw. Stadteilschulen verschmolzen - so die Idee. Doch die Ausweitung der Kampfzone droht überall. Denn überall kommen die Schulformen in Bewegung - aus politischen wie demografischen Gründen. Nur die Gymnasien werden bleiben. Niemand wagt es, sie mit zu fusionieren.
Die große Frage ist: Wie verteilt man die Schüler anschließend gerecht auf Gymnasium und zweite Schulform? Mit rigider Note - wie in Bayern? Per Elternwillen - oder mit dem Los? Das Berliner Beispiel zeigt, wie schnell man beim Losen eine Niete zieht. TAZ
So einträchtig hat man sie noch nie gesehen. Ganz links sitzt die Berliner Philologenverbandschefin Kathrin Wiencek und nur zwei Stühle weiter Ulrich Meuel von der GEW - üblicherweise sind sich diese beiden Organisationen in nichts einig. Heute haben sie ein gemeinsames Anliegen. Dazu gesellt sich der Chef der Berliner Oberstudiendirektoren, Ralf Treptow, ein eloquenter, harter Gymnasiallobbyist. Zwei Stühle weiter sitzt jemand, der mit Gymnasien wenig am Hut hat - Lutz Kreklau von der Martin-Buber-Gesamtschule. Doch auch diese beiden haben heute die exakt gleiche Botschaft: Die Lostrommel sei das denkbar idiotischste Instrument, um Schüler zu verteilen.
"Das ist ein bildungspolitisches Desaster", schmettert Ralf Treptow. "Ich bin ja mit Herrn Treptow sonst nie einer Meinung", sagt Ulrich Meuel und guckt Treptow neben sich an, "aber da sind wir einer Meinung: 50 Prozent der Schulplätze zu verlosen, ist falsch."
Lässig gibt sich der Berliner Elternchef André Schindler. Er ist es, der die bunte Koalition geschaffen hat. Was hält sie zusammen? Dazu muss man ausholen. Es geht darum, wie man eine hochkomplizierte Schulstruktur vereinfacht - und anschließend Schüler gerecht verteilt.
Berlin versucht von den Staaten zu lernen, die bei Pisa herausragende Ergebnisse erzielten. Das heißt: Die Stadt will ihre Schulstruktur aufräumen. Das vielfach gegliederte System soll einfacher werden - um die soziale Auslese zu verringern und die Chancen für bislang benachteiligte SchülerInnen zu erhöhen. Hamburg, Schleswig-Holstein tun dies genauso radikal, in engen Grenzen basteln sogar Bayern und Baden-Württemberg an den Schulstrukturen.
Berlins Schulsystem zeichnet sich bislang durch eine ausgesprochen starke Vielgliedrigkeit aus: Neben Haupt- und Realschulen gibt es Gesamtschulen mit und ohne gymnasiale Oberstufe, zudem Oberstufenzentren, an denen das Fach-/Abitur zu machen ist. Von Gymnasien gibt es es gleich drei Sorten: die grundständigen (ab der fünften Klasse), die regulären (ab der siebten Klasse) und noch Schnellläufergymnasien, an denen man bereits nach 11 Jahren die Hochschulreife bekommt. Dazu kommen die Förderzentren genannten Sonderschulen mit neun verschiedenen Schwerpunkten.
Bewährt hat sich diese schulische Vielfalt nicht: Insbesondere Kinder nichtdeutscher Herkunft gehen häufig ohne Schulabschluss ab. Bei Leistungsvergleichen zeigt sich, dass viele SchülerInnen mit Migrationshintergrund kaum mithalten können. Auch deutsche SchülerInnen aus problembelasteten Familien haben Schwierigkeiten in der Schule. Mehr soziale Gerechtigkeit, weniger Auslese, bessere Lern- und Förderbedingungen - das ist das Ziel der Schulreform, die Berlins Schulsenator Jürgen Zöllner (SPD) umsetzen will. Paradestück ist dafür die Gemeinschaftsschule, also die von Skandinavien (ihre Gegner sagen: von der DDR) abgeguckte "Schule für alle". Sie ist allerdings nur ein Modellversuch. Denn zu groß war der Aufschrei von Opposition, Philologenverband und Elternvertretern bei der Vorstellung, Rot-Rot könne ihr geliebtes Gymnasium abschaffen und in der Gemeinschaftsschule aufgehen lassen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und Jürgen Zöllner werden nicht müde, den Berlinern zu versprechen: Das Gymnasium bleibt!
Dafür muss sich der Bildungssenator allerdings an etwas versuchen, das er selbst "fast die Quadratur des Kreises" nennt: Er muss neben das Gymnasium eine sogenannte Sekundarschule setzen, die alle Oberschulformen außer den Gymnasien zusammenfasst. Sie soll dem Gymnasium gleichwertig sein - also das Abitur anbieten. Die Sekundarschulen sollen zudem, um schwächere SchülerInnen fördern zu können, besser ausgestattet werden als Gymnasien: Ganztagsbetrieb, kleinere Klassen, bessere Lehrerausstattung, anderes pädagogisches Personal. Je mehr Kinder aus armen oder eingewanderten Familien, desto höher die Zumessung.
Das Gymnasium scheint gerettet, die neue Sekundarschule könnte tatsächlich ihren Zweck erfüllen. Doch die Sache hat einen Haken - nämlich den der Verteilung der Schüler: Wer soll künftig nach welchen Regeln entscheiden, welches Kind auf welche Schulart geht? Bislang entscheidet dies in Berlin allein der Elternwille, beschränkt nur durch die Aufnahmekapazität bei Schulen. Die zuständigen Bezirksämter übernehmen nach bestimmten Kriterien die Verteilung - entscheidend dabei: die Entfernung zwischen Wohnort und Wunschschule. Wer näher dran ist, ist drin.
Dass diese Regelung des Zugangs nicht gerecht ist, ist in Berlin Konsens: Bei den Eltern, weil viele ihre Kinder wegen des Wohnorts bei der Konkurrenz um Plätze an beliebten Schulen benachteiligt sehen. Bei den Gymnasien, weil manchen von ihnen das Abrutschen droht. Wenn sie zu wenig gymnasialempfohlene Kinder bekommen, sinkt ihr Ruf bei bildungsorientierten Eltern blitzschnell.
Berlins Bildungsexperten rechnen damit, dass mit der Einführung der Sekundarschulen zum Schuljahr 2010/2011 der Run auf die Gymnasien weiter steigen wird. Das würde beweisen, wie wenig Vertrauen die Eltern der neuen Schulform Sekundarschule entgegenbringen. Die Lösung, die Schulsenator Zöllner sich ausgedacht hat, um diesem Run zu begegnen, ist tricky - und hat die Wellen der Empörung unter Eltern und Gymnasiallobby in der Hauptstadt erneut hochschlagen lassen. Jürgen Zöllner will losen: 50 Prozent ihrer Plätze sollen Schulen, die zu viele Anmeldungen haben, künftig nach eigenen Auswahlkriterien vergeben dürfen. Die andere Hälfte soll per Losverfahren verteilt werden. "Zutiefst ungerecht und unpädagogisch" nennen das Kritiker. Es werde Kinder mit Gymnasialbegabung an Sekundarschulen und Kinder ohne genug Fähigkeiten ans Gymnasium spülen: Die Abschaffung des Gymnasiums durch die Hintertür fürchtet der Philologenverband.
Steffen Zillich, bildungspolitischer Sprecher der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus, zuckt da nur mit den Schultern. Gerade ein solches, für soziale und ethnische Herkunft blindes Aufnahmeverfahren ermögliche doch die Bildungsgerechtigkeit, die die Schulreform ja herbeiführen soll. Es wundert wenig, dass die Fraktion der Linkspartei Zöllners Vorschlägen zugestimmt hat - als einzige bislang. Seine eigenen SPD-FraktionsgenossInnen konnte der Senator bislang nicht überzeugen. Ob die sozialdemokratischen Abgeordneten zustimmen werden, ist fraglich. Sogar das Damoklesschwert Koalitionsbruch wird mittlerweile aufgehängt. Linkspartei-Bildungspolitiker Zillich befürchtet, eine Verschiebung der Losentscheidung könne die Koalition ins Wanken bringen.
Eine Vorstellung, die manchen gar nicht so unangenehm ist. Nicht umsonst hat der Vorsitzende des Berliner Landeselternausschusses, André Schindler, die bunte Antiloskoalition aus GEW und Philologen, Gymnasien und Gesamtschulen, Schülern und Eltern zusammengeschmiedet. Und so ziehen sie über die Schülerlotterie her. "Leistungs- und kinderfeindlich" sei es, Kinder per Losverfahren auf Schulen zu verteilen, sagt die Philologin Kathrin Wiencek. Und der Mann von der GEW, Ulrich Meuel, sagt: "Das Losverfahren gefährdet unsere Profilbildung."
Freilich, wenn man genauer hinsieht, ist die Einigkeit schnell dahin. Denn bei der entscheidenden Frage, wie sie denn die Kinder nach der Grundschule verteilen würden, winken die Losrebellen schnell und aufgeregt ab. "Wir sind von viel zu unterschiedlichen Organisationen", sagt der oberste Oberstudiendirektor Ralf Treptow, "eine gemeinsame Position kann es gar nicht geben."
Richtig peinlich wird es aber für die Koalition der Losgegner, wenn sie verraten, wie sie bisher ihre Schüler verteilen. Sie lehnen zwar die Lostrommel PR-stark ab - stellen sie aber selbst auch auf. Die beiden Gesamtschulvertreter gestehen, dass sie, sobald alle anderen Kriterien abgearbeitet sind, schon heute das Losverfahren benutzen, um Schüler auszusuchen. Schindler und die Philologin sagen, sie würden Losquoten von 20 Prozent hinnehmen. Und der Oberstudiendirektor Treptow windet sich wie ein Aal, um von seiner Auswahlmethode abzulenken. Da könne er nicht drüber reden, das sei nicht die Frage. Jeder weiß: Wenn allein der Elternwille beim Zugang zum Gymnasium zählt, kann er den Run gar nicht anders als durch die Lostrommel kanalisieren.
Da meldet sich GEW-Mann Ulrich Meuel. "Es gibt keine gerechte Lösung für den Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule", sinniert er. Kein Los- oder Kriterienverfahren sei fair. Nur eine Lösung gebe es: "Wirklich gerecht wäre nur - eine Schule für alle".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“