Verteidigung des Brustschwimmens: Gerade, anmutige Bahnen
Rückschrittlich, ungesund und ineffizient: Brustschwimmen ist verpönt. Zu Unrecht, denn das Kraulen ist ein viel unsozialerer Schwimmstil.
Es ist Sommer und ich verbringe den Vormittag standesgemäß im Prinzenbad in Berlin-Kreuzberg. Ich versteh ja nicht, wie sich die Leute an einem heißen Tag wie diesem direkt in die Sonne knallen können – wir chillen immer oben links in unserer kühlen Ecke auf den Steinstufen, der einzigen Stelle des Schwimmbads, die den ganzen Tag im Schatten liegt. Dort lese ich den Teaser zu einem Artikel in der Zeit. Es geht um den seltsamen deutschen Hang zum Brustschwimmen. Also darum, dass in Deutschland als praktisch einzigem Land der Welt die Kinder noch immer als Erstes und oft ausschließlich das Brustschwimmen erlernten. Mit dem sturen Beharren auf diese nachweislich ungesunde Schwimmtechnik schrottet sich unser Volk seit Generationen nachhaltig den Nacken und die Wirbelsäule.
Gut, ich hab den Zeit-Artikel letztlich nicht gelesen, bis auf besagten Teaser und die üblichen Hasskommentare derer, die ihn ebenfalls nicht gelesen haben – so sieht moderne Medienrezeption nun mal aus. Trotzdem stellt sich im Subtext unschwer ein Zusammenhang her zwischen dem Brustschwimmen auf der einen und quasi kulturell verankerten faschistoiden Tendenzen auf der anderen Seite. Brustschwimmer als engstirnige Ewiggestrige aus dem Land der ungezogenen Lehren, ein Symbol auch für den strukturellen Stillstand hierzulande.
Als strahlender Gegenentwurf eines brustschwimmenden Dunkeldeutschlands wird ein fortschrittliches Bild weltoffener junger Menschen gezeichnet, digitale Veganer mit pumperlgesundem Rücken, die wie Delfine klimaschonend gen Sonnenaufgang kraulen, über ihnen die funkelnden Sternlein eines globalen Gewissens.
Ich geh besser mal ins Wasser, meinen aufkeimenden Zorn abkühlen. Und was mir dort als Allererstes ungut auffällt, während ich im edlen Bruststil schnurgerade meine Bahnen ziehe, sind die Kraulenden. Kaum eine schafft es, auch nur einen halbwegs geraden Kurs zu halten. Sie sehen nichts und es ist ihnen auch egal, wen oder was sie da untermangeln, in ihrer Dynamik jenen schwimmenden Mähdreschern nicht unähnlich, die in Binnengewässern wuchernde Wasserpflanzen beseitigen. Die Kraulenden sind immer im Weg, schaffen es aber irgendwie, dass man sich stattdessen selbst im Weg fühlt. Sie verstehen es perfekt, passive und aktive Aggression zu mischen. In Wahrheit verhält es sich nämlich genau umgekehrt, als uns insinuiert werden soll: Kraulen ist ein äußerst unsozialer Schwimmstil.
Alles im Blick
Wie viel Würde und natürliche Anmut wir Brustschwimmer hingegen ausstrahlen. Und was wir alles mitbekommen, um uns herum, am Beckenrand und auf den Steinstufen. Wir sehen die alten Dauerkartenmänner in ihren winzigen Speedos aus dem vorigen Jahrtausend, die trotz Hauttyp 2 längst einen nougatfarbenen Teint aufweisen – ist das noch fahrlässige Selbsttötung oder schon ethnical appropriation? Wir bewundern die wie alle paar Jahre mal wieder turnusgemäß aus dem Grab des schlechten Geschmacks gekletterte Mode der Pofreibikinihöschen. Wir lauschen dem niemals enden wollenden Geschrei der Bademeister und den Arschbomben der Kinder. Wir riechen Frittenfett, Sonnenmilch und Chlor.
Letzteres riecht eigentlich neutral, erst in Verbindung mit Schweiß, Urin und Hautpartikeln verströmt es den uns allen vertrauten Geruch. Sobald es riecht, ist es zu spät, und hier im Prinzenbad riecht es definitiv schon. Als Brustschwimmer dümple ich zum Glück mit dem Köpfchen aus dem Wasser über dem garstigen Sud, während die Hektiker um mich herum in großen Schlucken ihre Kraulpirinha saufen, den berühmt berüchtigten Cocktail aus Exkrementen und H²O.
Doch der größte Vorteil für uns Brustschwimmende entfaltet sich in der freien Natur. Denn das Brustschwimmen ist die Ausflugsversion unter den Schwimmstilen. Man gondelt gemütlich durch den See und genießt die herrliche Bergkulisse. Wer krault, sieht nichts von alledem, sondern pflügt wie ein U-Boot berserkergleich durchs aufgewühlte Nass. Kein Blick für die Schönheit der Natur vermag die blinde Zerstörungswut zu mäßigen.
Furchtsam fliehen die Wasservögel und überantworten ihre Brut dem sicheren Tod. Ich tue es ihnen gleich, steige aus dem Becken und überlasse die Kraulmenschen ihrem Schicksal. Bevor ich zu meinem Schattenplatz zurückkehre, dusche ich mich gründlich ab.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator