Verstrahltes AKW-Gelände: Lügen in der Datenflut
Die Messdaten über die radioaktive Strahlung auf dem Gelände von Fukushima I sind scheinbar niedrig. Die Instrumente stehen nicht direkt an den Reaktoren.
![](https://taz.de/picture/275065/14/AP110317027404_2_.20110318-18.jpg)
BERLIN taz | Glaubt man der japanischen Behörde für Industrie- und Atomsicherheit Nisa, dann gibt es am AKW Fukushima I kaum Probleme: 338 Mikrosievert pro Stunde seien am Donnerstag am Westtor der Anlage gemessen worden, hieß es: "Immer noch viel höher, als es sein sollte, aber nicht gefährlich."
Es gibt aber auch ganz andere Daten. Denen zufolge werden Arbeiter schwer verstrahlt und werden in der 20-Kilometer-Zone rund ums AKW ganze Landstriche möglicherweise für lange Zeit unbewohnbar.
Der offizielle Höchststand beim Strahlenchaos der letzten Woche waren 1.000 Millisievert, die nach den Explosionen an den Reaktoren gemessen wurden. Die Werte sanken dann schnell wieder auf 600 bis 800 Millisievert. Aktuell werden nach den Daten der Betreiberfirma Tepco etwa 400 Millisievert pro Stunde an Block 3 gemessen, 100 Millisievert an Block 4.
Zum Vergleich: Die 400 Millisievert, die ein Arbeiter zurzeit an Block 3 in einer Stunde abbekommt, entsprechen der Belastung, die er in seinem gesamten Berufsleben als AKW-Angestellter ausgesetzt sein dürfte, ohne seine Gesundheit zu gefährden.
Die Maßeinheit, die nun alle kennen lernen, heißt Sievert, benannt nach einem schwedischen Strahlenschützer. Sievert ist die sogenannte Äquivalenzdosis. Das ist aussagekräftig für die Strahlenbelastung von Organismen. Die bekannte Einheit Becquerel gibt nur die Zahl der radioaktiven Zerfälle pro Sekunde an. Wichtig für die Gefährlichkeit ist aber auch, wie viel Energie (= Zerstörungskraft) so ein Zerfall aufbringt, ob sich das strahlende Teilchen innerhalb oder außerhalb des Körpers befindet sowie andere Faktoren. Die sind bei Sievert mit eingerechnet.
Die natürliche Strahlenbelastung für eine Person beträgt im Schnitt zwei tausendstel Sievert pro Jahr, also 2 Millisievert (mSv/a). Dazu kommt etwa 1 mSv durch medizinische Untersuchungen, etwa beim Röntgen. Am Fukushima-Reaktor herrschten schon am Dienstag laut der Betreiberfirma bis zu 400 mSv - pro Stunde. Das sind mehrere Millionen Mal mehr als die natürliche Strahlenbelastung. (rem)
Die durchschnittliche Jahresbelastung in Deutschland liegt bei etwa 3 Millisievert pro Jahr. 100 Millisievert pro Stunde führen zu ersten Anzeichen von Strahlenkrankheit wie Übelkeit oder Haarausfall. Etwa ab der 10-fachen Dosis können die Auswirkungen akuter Strahlenkrankheit einsetzen, die je nach Dosis und Dauer tödlich verlaufen kann.
Strahlenhölle von "mehreren zehntausend Millisievert"
Die Messstationen aus dem AKW zeichnen offenbar ein verzerrtes Bild. Die deutsche "Gesellschaft für Reaktorsicherheit" (GRS) hat auf Grundlage dieser Zahlen eine Grafik erstellt.
Die höchsten Ausschläge liegen hier bei etwa 12 Mikrosievert. Die bestätigten Höchststände lagen dagegen etwa um das Hundertfache höher. Denn gemessen wurde nicht an den Reaktoren, sondern hunderte Meter entfernt am Zaun der Anlage und im Westen der glühenden AKW-Blöcke - und der Wind weht nach Osten.
Misst man dort, wo die Reaktoren qualmen, bekommt man ganz andere Werte. In der Luft über Block 3 ergaben sich bereits am Mittwoch 250 Millisievert pro Stunde - so viel, wie die Techniker vor Ort insgesamt abbekommen dürfen.
Und von den Brennelementen in den teilweise trockenen Abklingbecken sind bisher keine Messdaten bekannt. Experten der GRS schätzen, dass dort eine Strahlenhölle von "mehreren zehntausend Millisievert" herrscht. Das sind ähnliche Werte wie nach der Katastrophe von Tschernobyl.
Auch in der Region um das Katastrophen-AKW schlägt sich die Strahlung inzwischen deutlich nieder. Vor allem die nähere Umgebung bekommt kräftige Dosen an radioaktiven Teilchen und Strahlungen ab, auch wenn nach Angaben der WHO derzeit "keine unmittelbare gesundheitsschädliche Strahlenbelastung" vorliegt.
Ein Messdatennetz des japanischen Wissenschaftsministeriums (Mext) zeichnete am Mittwoch in einem Umkreis von 20 bis 60 Kilometern Werte zwischen etwa 10 und 80 Mikrosievert pro Stunde auf, ein anderer Messpunkt in 30 Kilometer Entfernung zeigt 170 Mikrosievert.
Wind könnte drehen
Was bedeutet das? Ein Wert von 60 Mikrosievert pro Stunde, wie er etwa an Punkt 6, 30 Kilometer nordwestlich des AKW Fukushima gemessen wird, zeigt eine Tagesbelastung von etwa 1,5 Millisievert pro Tag - also knapp die normale jährliche Belastung in Deutschland.
Bliebe es über ein ganzes Jahr bei einer Strahlung aus Fukushima wie derzeit, so würde die Belastung an diesem Punkt in einem Jahr deutlich höher liegen als sie für einen AKW-Angestellten in seinem ganzen Berufsleben vorgesehen ist. "Diese Zahlen zeigen auf jeden Fall, dass im Moment in Fukushima eine Katastrophe geschieht", sagt Gerald Kirchner vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS).
"Bliebe es bei diesen Werten, muss man mit deutlich erhöhten Werten und Langzeitfolgen rechnen. Der deutsche "Eingreifrichtwert" für die Evakuierung der Bevölkerung in so einem Falle beträgt 100 Millisievert pro Jahr." Diese Grenze ist in der Gegend um Fukushima weit überschritten: Am Messpunkt 6 wären es hochgerechnet pro Jahr 525 Millisievert.
Derzeit kämpfen die Rettungskräfte verzweifelt dagegen, dass in Fukushima die Reaktoren und Brennelemente durchbrennen. Wie lange die nuklearen Lecks die Gegend verseuchen, wird darüber entscheiden, ob die Region um das AKW bewohnbar bleibt.
Bisher waren zumindest die Bewohner des Großraums Tokio von der Belastung aus Fukushima relativ gut geschützt. Doch am Wochenende und Anfang der nächsten Woche soll der Wind mehrfach drehen und teilweise aus Norden kommen. Dann liegt auch Tokio in der radioaktiven Abgasfahne von Fukushima.
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