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Verschwindende GletscherEwiges Eis, das trösten kann

Die Gletscher in den Alpen sind in 15 Jahren um ein Sechstel geschrumpft. Wenn sie weg sind, wo um Himmels willen sollen MelancholikerInnen dann hin?

Objekte der Sehnsucht, die schrumpfen Foto: Alexander Meneghini/reuters

E igentlich waren Gletscher für die Unsterblichkeit gemacht. Das ewige Eis. Ein Ort der Geheimnisse. Als Kind lauschte man atemlos der Geschichte von dem Bergbauernburschen, der kurz vor der Verlobung plötzlich verschwand, einfach Reißaus nahm und die Braut schamlos im Stich ließ. Die Braut trauerte ihr Leben lang dem untreuen Geliebten hinterher und wurde darüber alt und runzlig.

Bis eines Tages der Gletscher sein Geheimnis hergab. Der Leichnam des Jünglings tauchte auf, jung und frisch, tiefgefroren zur Zeit der jungen Liebe. In der Tasche seiner Joppe fand man die Verlobungsringe. Beim Goldschmied in der Stadt hatte er die Ringe geholt, als Überraschung, und war dann über den Gletscher zur Braut zurückgeeilt und in eine Gletscherspalte gestürzt. Und so stand nun eine alte Frau am Sarg des Jünglings und weinte und trauerte und war gleichzeitig froh, dass die große Liebe tatsächlich groß gewesen und ihr nicht ein Verrat geschehen war. Nur wer ein eiskaltes Herz hat, dem wird nicht warm bei dieser Geschichte.

Gletscher trösten. Während sich gewöhnliche Urlauber im Sommer am Strand in der Sonne aalen, ist der MelancholikerIn dies zu hell, zu heiß und zu grell. MelancholikerInnen machen sich daher auf in die Berge, zum Eis, zum Gletscher. Wer die Jahrhunderte alten Eisschichten eines Gletschers erblickt, der fühlt sich mit der Unsterblichkeit verbunden, auch ohne 100.000 Follower. Reinhold Messner (mit schwieriger Kindheit) sagte mal, nur in Schnee und Eis fühle er sich lebendig.

Doch die Gletscherillusion schmilzt dahin, unwiederbringlich. Die neueste Hiobsbotschaft kommt von Geografen der Universität Erlangen-Nürnberg. Die alpinen Gletscher in Frankreich, der Schweiz, Österreich und Italien haben zwischen 2000 und 2014 etwa ein Sechstel ihres Eisvolumens verloren. Ende dieses Jahrhunderts wird es wohl gar keine Alpengletscher mehr geben, und das durch unsere Schuld.

Das Objekt der Sehnsucht schrumpft, wird kleiner, grauer, schmutziger. Wer hätte das gedacht: Die Gletscher sind jetzt sterblich – wie wir. Wir können den Gletschern einen Grabstein setzen wie die Isländer auf dem Eisfleck, der einmal der Gletscher Okjökull war. Doch das tröstet nicht. Wir haben es verbockt. Doch wo soll dann noch hin, wer die Ewigkeit sucht?

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Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).
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