Verschollene Über-Hundertjährige: Fiebrige Suche nach den Uralten
Die meisten Hundertjährigen sollen bekanntlich in Japan leben. Doch hat ein Skandal in Tokio jetzt die Frage aufgeworfen, wie viele von ihnen überhaupt noch leben.
TOKIO taz | In ganz Japan sind tausende Beamte und Freiwillige ausgeschwärmt, um vermisste Hundertjährige zu finden. Laut Behördenangaben leben mindestens 279 solcher Supersenioren nicht unter ihrer Meldeadresse. Vermutlich sind es sogar weitaus mehr, denn allein in der mitteljapanischen Stadt Kobe sind 105 Hundertjährige verschwunden, darunter auch eine angeblich 125-Jährige. Oft wissen selbst die engsten Verwandten wie ihre Kinder nichts über den Verbleib der Superalten.
Dass sich Familien und Behörden so wenig um die Verschollenen kümmern, hat in Japan selbstkritische Betrachtungen ausgelöst. Der Anteil der über 65-Jährigen ist mit 22,7 Prozent auf einem Rekordhoch, die Frauen haben mit 86 Jahren die höchste Lebenserwartung aller Nationen, Männer werden fast 80 Jahre alt. Die Kehrseite besteht darin, dass immer mehr Hochbetagte einsam und verlassen sterben. Offiziell gibt es 40.399 Hundertjährige, doch diese Zahl muss nun wohl korrigiert werden.
Ausgelöst wurde die Suche nach den Hundertjährigen durch einen mutmaßlichen Betrugsfall in Tokio. Der angeblich 111-jährige Sogen Kato hatte in Wirklichkeit 32 Jahre tot in seinem Zimmer gelegen. Während der ganzen Zeit kassierten seine Angehörigen seine Rente. Schließlich behauptete ein Enkel bei der Polizei, sein Großvater habe sich vor drei Jahrzehnten zum Fasten zurückgezogen, um zum lebenden Buddha zu werden. Erst im Frühjahr hätte seine Familie in seinem Bett ein mumifiziertes Skelett gefunden. Jetzt ermittelt der Staatsanwalt, ob die Familie ihn im Stich gelassen und seine Rente eingestrichen hat.
Seit dieser grausigen Entdeckung sucht die Stadt Tokio auch Fusa Furuya. Dem Melderegister zufolge müsste sie bereits 113 Lenze zählen und würde damit den Altersrekord der Hauptstadt halten. Doch ihre älteste Tochter hat die Mutter seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen, obwohl sie offiziell mit ihr zusammenwohnt. Die selbst bereits 79-Jährige hatte angenommen, dass die Mutter bei ihrem Bruder lebt. Die vermeintliche Superalte bezieht keine Rente, ihre Tochter hatte zwar ihre Pflege- und Krankenversicherung bezahlt, aber keinen Kontakt mit ihr gehalten.
Die Tageszeitung Asahi sieht darin keinen Einzelfall und beklagt die schwachen Familien- und Sozialbindungen in Japan. Die Geschichte von Frau Furuya bewiese die Existenz von vereinsamten Senioren, um die sich niemand kümmere. Viele Familien würden nicht einmal die Polizei nach den Vermissten suchen lassen. "Es zeigt sich, dass es einsame Menschen gibt, die keine Familie haben, an die sie sich wenden können, und deren Bindungen an ihr Umfeld gekappt sind," schreibt Asahi. Vor dem Krieg hatten noch 90 Prozent der Alten zusammen mit ihrer Familie gelebt. Heute wohnen viele Senioren allein, auch weil es nur wenige Altersheime gibt.
Schlampige Behörden tragen eine Mitschuld an dieser Vernachlässigung der alten Mitbürger. Alle Hundertjährigen erhalten ein Glückwunschschreiben und ein Geschenk mit der Post. Doch der persönliche Besuch fällt häufig aus, obwohl er seit einigen Jahren vorgeschrieben ist. Die Städte begründen dies mit dem verschärften Datenschutz, aber ihnen fehlen auch ehrenamtliche Sozialarbeiter. Eigentlich sollen sie maximal 440 Haushalte betreuen, aber in einigen Städten sind sie für fünfmal so viele Betreute zuständig.
Einige Städte führen Superalte offiziell gar nicht als Hundertjährige, weil sie nicht an ihre Existenz glauben, aber sie nicht für tot erklären wollen. "Viele Menschen bezweifeln, dass der Staat den Aufenthaltsort älterer Bürger nachverfolgt", räumte Sozialminister Akira Nagatsuma ein. Jetzt sollen auf Anregung des Sozialministers zumindest alle über 110-Jährigen persönlich besucht werden, um zu überprüfen, ob sie noch am Leben und wohlauf sind. Ihre Zahl dürfte sich in einem überschaubaren Rahmen bewegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid