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Vernachlässigte KinderZweijährige wie Greise

■ Sehr junge Mütter sind oft überfordert / Hebammen sollen helfen

Hebammen sollen überforderten Müttern bis zu einem Jahr lang bei der Betreuung ihrer Kinder helfen. Dieses Modellprojekt kündigte Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) in dieser Woche an. Sozialarbeit und Kinderbetreuung müssten vernetzt werden. „Nicht wenige Frauen bekommen in ganz jungen Jahren Kinder. Sie sind häufig allein stehend und unerfahren.“ Viele von ihnen ließen keinen Sozialarbeiter an sich heran, hätten gegenüber einer Hebamme jedoch weniger Miss-trauen.

Die Kosten von insgesamt 1,75 Millionen Mark (rund 0,85 Mio Euro) für drei Jahre teilten sich Land und Klosterkammer mit jeweils 460.000 Mark und die Kommunen mit 720.000 Mark. Beteiligt seien Osnabrück, der Landkreis Leer und eine weitere Kommune, die noch bestimmt werde. Das meiste Geld werde für den Einsatz und die Fortbildung von Hebammen benötigt. Ziel sei es, die Vernachlässigung von Kindern zu vermeiden. „Wir versprechen uns dadurch auch, dass wir die Kosten für ältere Kinder dann nicht mehr so stark haben wie jetzt“, sagte Trauernicht.

Es sei schwierig, die Zahl vernachlässigter Kinder zu bestimmen. In Niedersachsen lebten 400 Kinder nicht mehr zu Hause, weil das Gericht den Eltern das Sorgerecht entzogen habe. „Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs“, sagte die Ministerin. Schätzungen gingen deutschlandweit von 50. 000 bis 500.000 Fällen von Kindes-Miss-handlungen aus. In Niedersachsen wäre dies ein Zehntel. Im Schnitt bekämen im Land 500 Mütter unter 18 Jahren ein Baby.

Unter Vernachlässigung zählte die Ministerin zum Beispiel unregelmäßiges Füttern der Kinder, Mangel an Flüssigkeit, keine Körper-Kontakte oder nicht genügend Ruhe. „Der Ruhe-Rhythmus ist an den Bedürfnissen der Eltern oder am Fernseher orientiert“, beschrieb Trauernicht das Problem. Vernachlässigten Kindern fehle es an Neugier, Spieltrieb und Leis-tung. „Sie vegetieren“, meinte Trauernicht. „Sie reduzieren Bedürfnisse bei sich selbst und unterdrücken Schmerzempfinden.“ Einige Zweijährige sähen aus wie Greise.

Der niedersächsische Vorsitzende des Deutschen Kinderschutz-Bundes, Johannes Schmidt, verglich das Modell-Projekt mit der Tierwelt: Wenn unerfahrene Elefanten-Mütter ein Kind bekämen, werde ihnen auch eine erfahrene Mutter zur Seite gestellt.

Das Ministerium hat zu dem Thema eine Broschüre heraus-gegeben, die einen Leitfaden für Eltern enthält, wie sie Vernachlässigungen erkennen und vermeiden können. dpa

Internet: Broschüre: www. niedersachsen.de/File/MS_Kindesvernachlaessigung.pdf

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