Verlust und Trauer: An Weihnachten ist Abwesenheit besonders präsent
Unsere Kolumnistin feiert gern Weihnachten. Auch wenn in der Stillen Zeit die Sehnsucht nach geliebten Menschen, die gestorben sind, heftig ist.
T rauer kommt in Wellen. Mit einem Geräusch oder Geruch wird eine Erinnerung herangespült, und mit ihr ein Gefühl. Mal ist es Freude über die gemeinsame Zeit mit einem geliebten Menschen, ein anderes Mal überkommt mich das schmerzhafte Gefühl von Verlust. Ich kann nicht sagen, was davon passiert, wenn ich plötzlich die Lieblingsschokolade meines Großvaters in der Hand halte, das Kipferl-Rezept meiner Großmutter aus dem Backbuch fällt oder ein Lied im Radio läuft, zu dem ich einst mit meinem Vater in der Küche tanzte.
Manchmal kommt ein Schmunzeln, manchmal eine Träne. Ich kann nicht gut einschätzen, wann die Trauer gewinnt. Meistens überrascht sie mich. Doch die Weihnachtswelle ist vorhersehbar. Ich denke, damit bin ich nicht allein.
Ich hatte das Glück einer entspannten Weihnachtsfamilie. Unsere Kategorie: „Atheist, and laughing about it“. Keine Heiligkeiten, kein Tamtam, kein Druck, aber alles da, was Spaß macht. Ich bin immer gern Weihnachten „nach Hause“ gefahren. Wenn ich mich bei Freund*innen umhöre, verstehe ich jetzt, wie besonders das war: Dass es da bei all den Schwierigkeiten, die Familien eben so mit sich bringen, doch immer etwas gab, das wir miteinander teilen wollten.
Weihnachten nahmen wir uns die Zeit dafür. Gutes Essen, schöner Baum und irgendein Familienmitglied (meistens ich) hat im Wohnzimmer eine alberne Performance hingelegt. Unser Familienverhältnis war liebevoll und selbstironisch. So unterschiedlich wir waren, wir teilten immer einen gewissen Humor. Wären wir ein Weihnachtsfilm, wären wir eine Chaos-Komödie gewesen und uns sehr bewusst über das Genre, in dem wir uns bewegten.
Geschenke für die Toten
Deshalb tut es jetzt besonders weh, dass nicht mehr alle da sind. Obwohl ich mir einen neuen liebevollen und ähnlich witzigen Weihnachtsrahmen geschaffen habe, bleibt das Gefühl, den Tisch für Menschen gedeckt zu haben, die nie wieder mit mir daran sitzen werden. Jedes Jahr fallen mir Geschenke ein, für liebe Leute, die nicht mehr leben.
Genauso schnell wie aus einem Familienfest ein Familienstreit werden kann, kann sich ein Fest der Freude zum Tag der Trauer entwickeln. Selbst für Weihnachtsmuffel: Gemeinsam machen wir uns jedes Jahr über Konsum und Kitschfilme oder christliche Doppelmoral lustig.
Eine kritisiert, wie viele Gänse für diesen Quatsch sterben müssen, ein anderer lässt sich selbstgefällig darüber aus, wie schön Berlin über die Feiertage ist, wenn die ganzen Zugezogenen weg sind. Auch das sind Rituale, die wir miteinander teilen und es tut weh, wenn in diesem Jahr jemand fehlt, der im letzten noch mitgelästert hat. Es ist einfach eine Zeit, in der Abwesenheit besonders präsent ist.
Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig Raum wir uns für Trauer geben. Wie schwer es selbst mir fällt, über Tod und Verlust zu sprechen. Dabei bin ich eigentlich recht close mit meinen unangenehmen Gefühlen. Ich kann auch wirklich gut heulen.
Falls es noch nicht zu spät ist, sich was zu wünschen: Mein Wunsch ist ein offenes Sprechen über Tod und Verlust. Dass sich Trauernde nicht die Frage stellen müssen, wem sie gerade die Stimmung verderben, sondern sich mit ihrem Schmerz in Gesellschaft begeben oder allein sein können, ganz so wie sie es brauchen. Ich möchte immer wieder und immer anders meine Toten vermissen, ohne dass von mir erwartet wird, über den Verlust hinwegzukommen.
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