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Verlorene Jugend Nie wird so viel über Radikalisierung geschrieben wie zu Zeiten von Terror und Krieg.Dabei sind die Mechanismen immer ähnlich – egal ob es sich um Rechtsradikale oder Salafisten handeltDie Seelenfänger von Deutschland

Von Annette Hauschild

Marco aus Oldenburg war in seiner Jugend ein Kleinkrimineller aus einer zerbrochenen Familie. Im Gefängnis konvertierte er zum Islam. Jetzt steht er vor Gericht, weil er im Dezember 2012 am Bahnhof in Bonn einen Sprengsatz gelegt haben soll. Eine solche Karriere ist keine Seltenheit im radikalislamischen Milieu. Der Rapper Deso Dogg, der „Emir von Gröpelingen“ genannte René M. aus Bremen und viele der gewalttätigen Salafisten, die im Mai 2012 gegen die Provokation der Muslimhasser von PRO NRW randalierten, haben ebenfalls eine klassische Kleinkriminellenkarriere hinter sich: Schwarzfahren, Schlägereien, Alkohol, Kiffen, Dealen.

Seelenfänger wissen das. Sie sind auf solche Fälle spezialisiert. Sie kümmern sich um Heranwachsende mit Problemen, geben ihnen Geborgenheit, Familienersatz und ein Gefühl der Stärke. Und führen sie schrittweise in eine vermeintlich heile Welt.

In vieler Hinsicht ist der Prozess der Bekehrung und anschließenden Radikalisierung Heranwachsender mit dem Abtauchen in eine Sekte vergleichbar. Die Rückkehr daraus ist schwierig und langwierig.

Junge Leute mit schwierigen Lebensläufen, frühem Scheitern und großer Frustration sind für Radikalismen jeglicher Couleur besonders empfänglich. Das zeigt sich in den Lebensläufen junger Rechtsradikaler, Linksextremer und Salafisten gleichermaßen. Sozialarbeiter nennen als Gründe Ausgrenzung und Nichtteilhabe an der Gesellschaft. Aber beileibe nicht nur Unterprivilegierte, Marginalisierte und Ausgegrenzte, sondern auch Kinder aus anscheinend heilen Verhältnissen und Mittelstandsfamilien wenden sich radikalen Anschauungen zu.

Auf 8.350 Personen schätzt das Bundesamt für Verfassungsschutz die salafistische Szene in Deutschland im Jahr 2015, im Vorjahr waren es noch 7.000 gewesen.

520 Salafisten hielten sich 2015 in Niedersachsen auf, 460 in Hamburg und 360 in Bremen, schätzen die jeweiligen Landesämter für Verfassungsschutz.

In den bewaffneten Kampf nach Syrien und in den Irak reisten bis Ende 2015 bundesweit 780 Salafisten aus, davon jeweils 70 aus Niedersachsen und Hamburg und 23 aus Bremen.

130 Dschihadisten aus Deutschland wurden bisher bei den Kämpfen getötet. Über ein Drittel davon ist nach Deutschland zurückgekehrt, bei 70 haben die Verfassungsschützer Anhaltspunkte für eine Kampfausbildung oder für Kampferfahrung.

Ein Bruch als Auslöser

Doch auch hier ist der Auslöser sehr oft ein Bruch im Leben des Jugendlichen, meint Thomas Mücke, der Geschäftsführer des Vereins Violence Prevention Network (VPN), der sich bei für den Salafismus anfälligen Jugendlichen um Prävention und Deradikalisierung bemüht und auch mit Syrienrückkehrern arbeitet. Oft passiert dieser Bruch, wenn in der Familie schwere Krisen eintreten.

Dann finden sich Freunde und Gleichaltrige mit ähnlichen Erfahrungen. Sie diskutieren über Gott und die Welt, hören zu, helfen, trösten und laden zu Treffen ein, etwa in einer Moschee oder zum Grillabend mit Koranstunde.

Bei der „Sauerlandgruppe“ gab es gleich zwei deutsche Islamkonvertiten aus zerrütteten Familien. Der Anführer stammte aus einem Ärztehaushalt. Die Eltern ließen sich scheiden, ein Zuhause fand der Sohn bei radikalen Mujaheddin-Veteranen aus dem Bosnienkrieg im Multikulturhaus Neu-Ulm. Der Jüngste der „Sauerlandgruppe“ wurde von seinen Eltern im Scheidungskrieg regelrecht missbraucht.

Drei der vier Neonazi-Brandstifter von Solingen, die im Jahr 1992 fünf Menschen umbrachten, stammten aus kaputten Familien, nur einer aus sogenanntem „gutem Hause“. Dessen Eltern waren sozial und ökologisch engagiert. Der rechtsradikale Attentäter der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker wurde von seinen Eltern verlassen und wuchs in einer lieblosen Pflegefamilie auf, er fand im Alter von 16 Jahren durch Schulkameraden Anschluss an die Bonner Skinheadszene. Zwei dieser fünf Personen sind von Gerichtspsychiatern als schwer psychisch gestört, gleichwohl für schuldfähig befunden worden.

Jugendliche, die sich zum Salafismus bekehren, verändern ihr Verhalten rasch und offensichtlich. Oft wird das von der Familie zunächst als positiv empfunden. Sie hören auf zu kiffen und zu trinken oder geben das Rauchen auf. Familien mit muslimischem Kulturhintergrund wundern sich zunächst oft, dass der Sohn oder die Tochter plötzlich nicht mehr draußen rumhängt, sondern den Koran liest, sich anders kleidet, anfängt zu beten. Nichtmuslimischen Eltern bereitet genau dies aber oft zusätzlich Sorge, denn sie befürchten, dass das Kind in eine ihnen völlig unbekannte Richtung driften, sich ihnen komplett entziehen und sich schließlich von ihnen abkehren könnte.

In der salafistischen Szene gibt es Gruppen, die Gewalt zum Aufbau einer islamischen Gesellschaftsordnung strikt ablehnen – dazu gehören etwa Pierre Vogel oder Sheikh Hassan Dabagh – und solche, die dies als legitim erachten und sogar propagieren. Zu letzteren zählt die Gruppe Millatu Ibrahim um den in Wien geborenen Prediger Mohamed Mahmoud. Angehörige des gewaltbereiten Spek­trums zieht es regelrecht in den bewaffneten Kampf, der gegenwärtig in Syrien stattfindet, um den „Brüdern und Schwestern“ im Kampf gegen das Assad-Regime zu helfen.

Besseres Leben

Sicher spielen beim Aufbruch in den bewaffneten Dschihad eine gehörige Portion Abenteuerlust und Dschihadromantik eine große Rolle, aber auch die Möglichkeit, Gewaltphantasien auszuleben, ein Held zu werden, und der Wunsch, aus dem verpfuschten alten Leben in ein neues, besseres aufzubrechen.

Ein Polizist, der das Strafverfahren gegen die „Sauerlandgruppe“, die sich in Waziristan zusammengefunden hatte, beobachtete, meinte einmal: „Erschreckend, wie viel Abenteuerlust da drinsteckt.“

Wenn diese Leute mit den Grausamkeiten des Krieges konfrontiert werden, kehren sie oft traumatisiert zurück. Die Sicherheitsbehörden betrachten sie wegen ihrer Kampferfahrung als Risiko, können aber nicht alle überwachen.

Vor etwa einem Jahr stellte das Bundesamt für Verfassungsschutz seine „Aussteiger-Hotline“ für Islamisten ein, mangels Nachfrage. Wer traut in dieser Szene schon dem Verfassungsschutz?

Große Akzeptanz finden dafür andere, nichtstaatliche Organisationen, die Rat und Unterstützung für Radikalisierte und Aussteigewillige, ihre Familien und ihre Lehrer anbieten: das Zentrum demokratische Kultur in Berlin mit dem Aussteigerprogramm Hayat, das seine Beratungstätigkeit bundesweit ausbaut; und der Verein Violence Prevention Network, der auch in die Justizvollzugsanstalten geht.

Annette Hauschild beobachtet Extremisten-Prozesse für verschiedene Tageszeitungen. Bei der taz betreibt sie den Terrorismus-Blog „Sauerländische Erzählungen“

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