Verkehrssicherheit in Berlin: Jede Zahl ein Menschenleben
Dem schwarz-roten Senat liegt die Sicherheit der BerlinerInnen am Herzen? Nicht, wenn es um den Straßenverkehr geht, meint Antje Kapek (Grüne).
![Auf einer Straße sind ein Umriss und ein Autokennzeichen gesprüht Auf einer Straße sind ein Umriss und ein Autokennzeichen gesprüht](https://taz.de/picture/7521512/14/imago441143533-1.jpeg)
T äglich sind wir auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, nach Hause – zu Fuß, auf dem Rad, mit Bus, Bahn oder im Auto. Egal wie – wir alle haben das Recht, sicher von A nach B zu kommen.
Doch die traurige Bilanz des letzten Jahres müsste einen Aufschrei auslösen: 55 Verkehrstote und mehr als 15.000 Verletzte. Das entspricht etwa der Größe von zwei Schulklassen. Gäbe es irgendwo anders so viele Verunglückte, wäre der Ruf nach Konsequenzen vorprogrammiert. Bei Verkehrstoten aber herrscht Stille.
Stattdessen wird so getan, als gehe es nur um Zahlen und Statistiken. Vergessen wird, dass hinter jeder Zahl ein individuelles Schicksal steht: Die junge Mutter, die mit ihrem vierjährigen Kind auf der Leipziger Straße überfahren wird. Die Arbeitskollegin, die nach einem Unfall mit einem Lkw den Rest ihres Lebens im Rollstuhl sitzt. Der Nachbar, der mit 42 Jahren an der Ampel überfahren wird, nach Wochen seinen Verletzungen erliegt und eine Frau mit drei Kindern sich selbst überlässt.
Selbst Menschen, die „nur“ leicht verletzt wurden, sind oft ein Leben lang traumatisiert. Auch ihre Angehörigen sind Opfer.
Die Regierung von CDU und SPD befand im Koalitionsvertrag, dass die Verkehrssicherheit erhöht werden müsse. In der Praxis werden bestehende Gelder hierfür gekürzt. Denn für die Berliner CDU ist die Verkehrswende Ideologie und kein notwendiger Weg zu mehr Sicherheit.
Damit sitzen sie die schlimme Entwicklung einfach aus – und das, obwohl Verkehrsunfälle in den meisten Fällen vermeidbar wären, wenn Infrastruktur und Verkehrslenkung berücksichtigen, dass auch Menschen Fehler machen. Die Verkehrssicherheit sollte deshalb endlich politische Priorität werden und den sicheren Umbau fördern.
Nicht einmal Anteilnahme
Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner selbst ist mit dem Versprechen angetreten, Berlin sicherer zu machen. Das gilt aber scheinbar nur, wenn es zur politischen Agenda passt. Wenn es um die Opfer von Verkehrsunfällen geht, dann bekommen sie nicht einmal seine Anteilnahme, geschweige denn ein echtes Sicherheitskonzept.
Im Koalitionsvertrag verpflichtete sich Schwarz-Rot zu dem ohnehin schon im Mobilitätsgesetz festgeschriebenen Grundsatz der Vision Zero und versprach hierfür die Vorlage eines Verkehrssicherheitskonzeptes. Was seitdem passiert ist, ist ein Armutszeugnis: Zu den ersten Amtshandlungen der neuen CDU-Verkehrssenatorinnen zählten der Radwegestopp und die Ankündigung, die Tempo-30-Anordnungen an Hauptverkehrsstraßen zurückzunehmen – beides torpediert nachweislich die Verkehrssicherheit.
Unsere Vorschläge für mehr Blitzer, Bremskissen, Verschwenkungen und Schwerpunktkontrollen an typischen Raserstrecken, Tempo 30 vor Schulen und Kitas, Schulstraßen oder schlicht der sichere Kreuzungsumbau werden abgelehnt. Völlig unbeeindruckt beobachtet man, wie illegale Autorennen, Raser-Ereignisse und vor allem die Zahl der Verkehrsopfer in Berlin in die Höhe schnellen. Statt Berlin sicherer zu machen, gilt auf den Straßen gefühlte Anarchie.
Zu den Hauptursachen von Verkehrsunfällen zählen das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, Fahren über Rot und Alkohol am Steuer. Die Physik sagt es voraus: je höher die Geschwindigkeit, desto tödlicher der Zusammenstoß. Das Risiko, bei einem Unfall zu sterben, sinkt bei Tempo 30 um 75 Prozent im Vergleich zu Tempo 50. Geschwindigkeitsbegrenzungen wären zudem schnell umsetzbar und wirken sofort.
Lyon hat beispielsweise vor 2 Jahren flächendeckend Tempo 30 erlassen und innerhalb kürzester Zeit die Verkehrsunfälle um mehr als ein Drittel reduziert. Einen ähnlich positiven Effekt haben geschützte Rad- und Fußwege. Berlin geht leider derzeit genau in die umgekehrte Richtung.
Es trifft die Schwächsten
Zu Fuß gehende Menschen und Radfahrende haben keinen Schutzpanzer, sie erleiden deutlich häufiger lebensbedrohliche Verletzungen bei einem Verkehrsunfall. So trifft es die Schwächsten in der Gesellschaft: Kinder und ältere Menschen. Warum wird beim Straßenbau eigentlich nicht an den Schutz von Kindern und Älteren gedacht?
Durch bauliche Trennungen vom motorisierten Verkehr und Ampelschaltungen, die es ermöglichen, auch wirklich in einer Grünphase von einer Gehwegseite zur anderen zu kommen, wäre allen geholfen. Doch auch hier ist der Autofluss wichtiger und werden die Gelder für den sicheren Umbau von Fußgängerüberwegen, Radinfrastruktur, den Kreuzungsumbau oder Blitzer weggekürzt.
Obwohl verlässliche Kontrollen und die Ahndung von Verkehrsdelikten gefährdendes Verhalten im Straßenverkehr nachweislich reduzieren und sogar Geld in den Landeshaushalt bringen würden. Es sollte nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein, dass an Ampeln Geschwindigkeitsüberschreitungen und Rotlichtverstöße erfasst werden.
Stattdessen tendiert die Wahrscheinlichkeit, bei Verkehrsdelikten auf Berlins Straßen erwischt zu werden, quasi gegen null. Kein Wunder also, dass ein Viertel aller Autofahrenden zu schnell unterwegs ist – Tendenz steigend. Auch bleiben schon heute 50.000 Bußgeldbescheide jedes Jahr liegen, weil das Personal für die Bearbeitung der Knöllchen fehlt. Eine Digitalisierung der Prozesse wäre auch hier überfällig, die Polizei weiß das, die Politik anscheinend nicht.
Andere Städte zeigen längst, wie es geht. Helsinki hat es mit Tempo 30 als Standard, Bremskissen, sicheren Kreuzungsumbauten, getrennten Verkehrswegen für Fuß-, Rad- und Autoverkehr geschafft, die Vision Zero regelmäßig zu erreichen.
Während in Berlin weiterhin die größte Gefahr für Leib und Leben immer noch im Straßenverkehr besteht. So bleibt es beim Aufstellen von weißen Fahrrädern an Unfallorten. Aber niemand, der bereit ist, die Verkehrssicherheit zur obersten Priorität zu machen.
Was wäre, wenn der Regierende oder die Verkehrssenatorin Bonde selbst sehen würden, dass Verkehrsopfer mehr sind als eine Zahl? Dass sie ein Gesicht und eine Geschichte haben? Würde Kai Wegner dann zu seinem Versprechen stehen und erkennen: Wer Sicherheit verspricht, muss auch den Straßenverkehr sicher machen?
Antje Kapek ist verkehrspolitische Sprecherin der Grünenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Von 2012 bis 2022 war sie zusammen mit Silke Gebel Fraktionsvorsitzende.
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