Verhandlungen um Brexit-Deal: Es geht um Europas Errungenschaften
Ein guter Brexit-Deal wird täglich unwahrscheinlicher. Doch ein Abkommen darf nicht auf Kosten von Umwelt- und Sozialstandards gehen.
D er Austritt Großbritanniens aus der EU schmerzt noch immer. Wir haben im Europäischen Parlament zum Abschied „Auld Lang Syne“ gesungen, uns umarmt, geweint. Nicht nur die Zusammenarbeit mit geschätzten Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament endete am 31. Januar, auch das Verhältnis zu den Menschen auf den Britischen Inseln wurde von einem Tag auf den anderen auf neue Füße gestellt.
Uns war nicht erst an diesem Tag klar, dass die kommende Zeit schwer werden würde. Zu ambitioniert war der Zeitplan, in weniger als einem Jahr ein umfassendes Abkommen zu verhandeln, zu beschließen und zu ratifizieren. Dann kam die Covid-19-Pandemie und damit noch mehr Zeitdruck, um noch weniger Möglichkeiten direkt zu verhandeln.
Die britische Regierung hat die Chance verstreichen lassen, die Verhandlungszeit unkompliziert zu verlängern. In zwei Monaten endet die Übergangszeit und ein gutes Abkommen wird mit jedem Tag unwahrscheinlicher. Es bleibt die Frage: Ist ein schlechter Deal besser als gar keiner?
Im Falle eines „No Deal“ würde zwischen der EU und Großbritannien ab dem 1. Januar 2021 nach den Regeln der Welthandelsorganisation gehandelt – inklusive Zöllen und den damit verbundenen aufwendigen Zollkontrollen. Insbesondere für die europäische Autoindustrie und Landwirtschaft würde das Folgen haben. Der Export auf die Inseln würde in vielen Fällen unwirtschaftlich werden, Tausende Arbeitsplätze wären gefährdet. Auch für viele andere Bereiche wie Onlinehandel, Krankenversicherungen oder Fahrgastrechte stünden problematische Umstellungen an.
Terry Reintke ist Vize-Präsidentin der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament. Anna Cavazzini ist Vorsitzende des Binnenmarktausschusses des Europäischen Parlaments.
Offen ist auch die Frage nach dem britischen Binnenmarktgesetz. Boris Johnson droht Teile des Austrittsabkommens, insbesondere die Regelungen für Nordirland, nicht umzusetzen. Zwar hat das House of Lords diese Option jetzt gestrichen, doch vom Tisch ist das Gesetz damit noch nicht. Die Intervention des Alt-Premierministers John Major gegen das Binnenmarktgesetz ist zwar symbolisch bedeutsam. Doch die Appelle der proeuropäischen Konservativen der alten Schule, die die EU-Mitgliedschaft damals gegen die Sozialdemokratie erkämpft hatten, verhallen ungehört. Die britische Regierung hat bereits angekündigt, die Entscheidung des Oberhauses zurückzunehmen. Sollte es zu keiner Einigung kommen, droht die britische Regierung wieder mit einer harten Grenze zwischen der Republik und Nordirland.
Gerade solche Ankündigungen machen ein schlechtes Abkommen so unattraktiv. Wenn die britische Regierung einen bereits vereinbarten Kompromiss einseitig wieder abräumt, wie sehr können wir uns dann auf andere Zusagen verlassen, die ähnliche oder höhere Kompromissbereitschaft erfordern?
In London träumt man von einem Singapur an der Themse, einem britischen Freihafen vor den Toren der EU. Die Konsequenzen aber sind absehbar. Die EU-Kommission hat gerade Vorschläge für einen europäischen Mindestlohn vorgelegt. Die britische Regierung indes könnte versucht sein, Sozial- und Arbeitsrechtsstandards zu lockern, um neue Unternehmen auf die Inseln zu locken.
Auch Umwelt- und Klimastandards könnten abgesenkt werden, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Im kommenden Jahr soll ein CO2-Grenzausgleich vorgelegt werden, eine Art Klimasteuer für umweltschädlich produzierte Importwaren. Und mit dem „Green Deal“ arbeitet die Union daran, Klimaschutz und nachhaltiges, sozial gerechtes Wirtschaften miteinander zu verbinden. Großbritannien würde zum neuen Eldorado enthemmter Wirtschaft. Das klingt eher nach Billiglohnland als nach Singapur – und das in unserer direkten Nachbarschaft.
Boris Johnson gibt zwar gerne die neue Ausgabe von Margaret Thatcher. In Wahrheit aber pocht er auf kräftige staatliche Unterstützung für britische Unternehmen. Die EU kann diese merkantilistische Subventionierungspolitik nicht hinnehmen. Wer auf den europäischen Binnenmarkt will, muss die europäischen Wettbewerbsregeln einhalten. Noch laufen die Verhandlungen, eine Abschlussrunde auf höchster Ebene ist nicht unwahrscheinlich. Der britische Premierminister gefällt sich eben in der Rolle des Machers.
Niemand wünscht sich einen „No Deal“. Denn gerade während der Covid-19-Pandemie müssen Lieferketten für Nahrungsmittel und Medikamente sichergestellt werden. Auch dürfen die Geflüchteten am Ärmelkanal nicht zum Spielball einer politischen Erpressung werden. Komplett machtlos wäre die EU aber auch nicht im Falle eines „No Deal“. Denn viele Regelungen für die für London so wichtige Finanzindustrie wären mit einer Frist von dreißig Tagen aufzukündigen.
Das Europäische Parlament muss dem Abkommen am Ende zustimmen. Gemeinsam mit einer großen Mehrheit des Europäischen Parlaments hoffen wir auf ein Abkommen mit Großbritannien. Die Wahl des Brexit-Gegners Joe Biden zum nächsten US-Präsidenten wird die Chance auf ein Abkommen vermutlich erhöhen. Auch auf das Binnenmarktgesetz wird der neue US-Präsident Einfluss nehmen. Zwar ist der Verweis auf seine irische Herkunft häufig mit einem Augenzwinkern versehen, die unbedingte Unterstützung des Karfreitagsabkommens ist den US-Demokraten aber sehr ernst. Nicht umsonst hielten sich lange die Gerüchte, der britische Premier würde sich vor dem Wahltermin in den Vereinigten Staaten auf keinen Fall bewegen. Boris Johnson ist seit Monaten am Zug. Seit vergangenem Samstag dürfte der Druck auf ihn, einen Schritt in Richtung eines Abkommens zu machen, noch einmal gestiegen sein.
Doch bei einem schlechten Deal, der eben keine gemeinsamen Regeln für Umwelt-, Arbeit- und Verbraucherschutzstandards findet, drohen viele europäische Errungenschaften zu kollabieren. Die Folgen für Europas Umwelt und Wirtschaft wären drastisch.
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