Verhaftungen in der Türkei: Erdoğan geht gegen Abgeordnete vor
Während der Coronapause sollen drei Abgeordnete verurteilt worden sein. Ihre Immunität wurde aufgehoben – ohne Votum des Parlaments.
Das Parlament wurde dabei komplett überrumpelt. Selbst Abgeordnete der Regierungspartei AKP wussten nicht Bescheid, als der stellvertretende Parlamentspräsident Sürreyya Sadi Bilgiç nach Sitzungseröffnung bekanntgab, er habe die Immunität der drei Abgeordneten aufgehoben.
Zur Begründung hieß es: Gegen die drei Abgeordneten waren Gerichtsverfahren in Gang, die in den vergangenen Wochen, in denen das Parlament aufgrund der Coronapandemie pausierte, in letzter Instanz mit einer Verurteilung geendet hätten. Bilgiç verlas die Urteile von Berufungsgerichten, in denen Verurteilungen aus der Vorinstanz bestätigt wurden.
Normalerweise hätte das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit einer Aufhebung der Immunität zustimmen müssen, doch in der „neuen Ordnung“ der Türkei Erdoğans genügte dafür eine Anweisung des Präsidenten an den amtierenden Parlamentspräsidenten. Dessen Entscheidung sorgte für erheblichen Aufruhr im Parlament.
Die gesamte Opposition trommelte auf ihren Pulten, aber niemand wurde ans Rednerpult gelassen. Sowohl Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der CHP, als auch die beiden HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar sprachen von einem „zivilen Putsch“, weil der Parlamentspräsident Befehle des Präsidenten entgegennehme.
IYI-Partei solidarisiert sich mit Verhafteten
Enis Berberoğlu wurde am Donnerstagabend in seiner Wohnung festgenommen. Zuvor konnte er noch ein kurzes Statement gegenüber der Presse abgeben. Er gab sich entspannt und sagte: „Ich muss noch 18 Monate ins Gefängnis, das werde ich auch noch überstehen.“
Berberoğlu hatte bereits 16 Monate in Haft gesessen, bevor er ins Parlament gewählt worden war. Er war als Spion verurteilt worden, weil er vor einigen Jahren dem damaligen Chefredakteur der Cumhuriyet, Can Dündar, das Videomaterial über türkische Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien geliefert haben soll. 2018 kam er frei, nachdem er das Parlamentsmandat gewonnen hatte.
Leyla Güven wurde bekannt, als sie vor rund eineinhalb Jahren in einen wochenlangen Hungerstreik trat, um gegen die Isolationshaft von Abdullah Öcalan zu protestieren. Musa Farisoğulları vertrat innerhalb der HDP die Minderheit der Zaza sprechenden Kurden. Beide wurden wegen Unterstützung der PKK verurteilt.
Beobachter gehen davon aus, dass Erdoğan mit der Verhaftung der drei Abgeordneten versucht, CHP und HDP gemeinsam in die Terrorecke zu drängen und so die politische Allianz mit der eher rechten IYI-Partei zu zerstören, die bei den Kommunalwahlen im März 2019 für den Sieg der Opposition wesentlich war. IYI-Vorsitzende Meral Akşener machte allerdings am Freitagmorgen klar, dass ihre Partei weiterhin zu der Allianz steht, und solidarisierte sich mit den verhafteten Abgeordneten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml