piwik no script img

Vergewaltigungsprozess um Gisèle PélicotDas Trauma der Heldin

Kommentar von Özge Inan und Özge İnan

Für die jahrelang vergewaltigte Gisèle Pélicot bleibt nach dem Prozess die Bewältigung ihres Traumas. Sie sollte damit nicht allein bleiben.

Gisèle Pelicot beim Verlassen des Gerichtsgebäudes in Avignon, an 27. November 2024 Foto: Alexandre Dimou/reuters

G isèle Pelicot ist mehr. Mehr als eine Ikone, mehr als eine Heldin, mehr als eine Pionierin. Als solche feiern Feministinnen weltweit die 71-jährige Französin, die über Jahre von ihrem Ehemann unter Drogen gesetzt, vergewaltigt und fremden Männern zum Missbrauch angeboten wurde. Tatsächlich verdient Pelicot mit ihrer Entscheidung, sich ins Licht der Öffentlichkeit zu begeben, den höchsten Respekt.

Die Scham muss die Seite wechseln, die Schande gehört den Tätern: Es ist der Mut dieser außergewöhnlichen Frau, der diese Parole aus dem Gerichtssaal von Avignon hinaus in die Welt trägt, mitten ins Herz der patriarchalen Schweigekultur. Aber dieser Mut hat einen Preis. Gisèle Pelicot zahlt ihn allein. „Wenn man mich so sieht, denkt man: Diese Frau ist stark“, sagte sie vor Gericht. „Aber in meinem Inneren ist ein Trümmerfeld.“

Jene, die sich eine übermenschliche Kämpferin wünschen, scheinen den zweiten Teil überhört zu haben. Sie sei eine „völlig zerstörte Frau“. In den vielen aktuellen Huldigungen liest man davon: nichts. Das ist ein Versäumnis. Denn wer vergöttert, entmenschlicht zugleich, mögen die Motive noch so nachvollziehbar sein. „I need a hero“, ich brauche einen Helden: Mit Bonnie Tyler ist die Lage gut zusammengefasst.

Europa und die Welt befinden sich mitten in einem antifeministischen Vormarsch, die Gewalt gegen Frauen spitzt sich zu. Frauenrechtlerinnen scheinen jetzt endlich eine Gegen­erzählung zu wollen, ein Symbol des Zurückschlagens. Aber sie verschweigen eine zentrale Realität des Über­lebens: den Schmerz. Wenn Pelicot damit genauso offensiv umgeht wie mit ihrem Kampf vor Gericht, sollten ihre Unterstützerinnen das auch tun. Anders werden sie dieser außergewöhnlichen Frau schlicht nicht gerecht.

Özge İnan

ist Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Migra­tion, Frauen- und Menschen­rechte.

Einer Bewegung, die sonst stets feinfühlig auftritt, Triggerwarnungen groß gemacht und den Begriff mental health auf die Karte gesetzt hat, steht das Ignorieren der traumatisierten, der zerstörten Pélicot nicht gut zu Gesicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!