Vergewaltigt vom Partner: "Aber er war doch mein Mann"
Der Mythos vom unbekannten Täter: Die meisten Vergewaltigungen finden in Beziehungen statt.
"Da hatte ich ihn einfach drin." Melanie Thale sagt diesen Satz, als möchte sie ihn ganz weit wegschieben, als wolle sie das Erlebte aus ihrem Leben für immer verbannen.
Eine Nacht im Dezember vor vier Jahren. Melanie Thale schläft, sie ist 38 Jahre alt, Lehrerin und eine selbstbewusste Frau. Neben ihr im Bett liegt ihr Ehemann. Das Paar ist vor ein paar Tagen geschieden worden, bald wird Melanie Thale umziehen in eine eigene Wohnung. Doch bis dahin teilt sich das Expaar das Schlafzimmer.
Plötzlich wacht Melanie Thale auf, weil "irgendwas drückt und zerrt" an ihr. Sie braucht einige Sekunden, um zu begreifen, was los ist.
Ihr Mann liegt auf ihr, er ist schwer und seine Hände begrapschen ihre Brüste. Er hat ihre Beine auseinandergedrückt, dringt in sie ein und stößt zu, einmal, zweimal, immer wieder. Sie will schreien, sie will, dass er aufhört. Aber dann lässt sie es doch geschehen. Sie hofft einfach nur, dass es gleich vorbei ist.
Melanie Thale wurde vergewaltigt, überwältigt im Schlaf von ihrem eigenen Mann. Heute weiß sie das, heute kann sie das auch so ausdrücken. Sie sitzt am Küchentisch in ihrer Wohnung in Berlin, in Tontöpfen auf dem Fensterbrett wuchert Basilikum, draußen schilpen Spatzen.
Melanie Thale ist kräftig, sie hat eine dunkle Stimme und ihr Leben im Griff. Damals, sagt sie, hätte sie den nächtlichen Übergriff niemals als Vergewaltigung bezeichnet. Es war schlimm, ja, ihr Exmann war brutal. Und die Sache ist ihr immer peinlich, immer noch nach so langer Zeit. Deshalb will sie ihren richtigen Namen auch nicht in der Zeitung lesen.
An Vergewaltigung aber, an eine Straftat, für die verurteilte Täter mindestens zwei und höchstens 15 Jahre ins Gefängnis geschickt werden können, daran hat Melanie Thale damals nicht gedacht. Warum nicht?
Sie sagt: "Er war mein Mann. Ich dachte, Vergewaltigungen passieren nur durch Fremde. Außerdem ist mir ja nichts weiter passiert."
Barbara Krahé kennt solche Sätze. Sie hat sie zuhauf gehört, und sie nennt sie Vergewaltigungsmythen: "Damit werden sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen verharmlost und geleugnet."
Männer vertreten diese Vorurteile stärker, aber es gibt auch Frauen, die an diese Mythen glauben. Dann unterscheiden sie zwischen "echten" und "unechten" Vergewaltigungen, sagt die Psychologieprofessorin an der Universität Potsdam: "Bei einer vermeintlich echten Vergewaltigung lauert der unbekannte Täter hinterm Busch und überfällt die Frau hinterrücks. Bei einer unechten kennt die Frau den Täter, beide waren oder sind vielleicht sogar ein Paar, es ist Alkohol im Spiel, es gab vorher intime Kontakte."
Tatort Wohnung
Alles falsch, sagt Barbara Krahé: "Vergewaltigungen finden ähnlich wie beim sexuellen Missbrauch vor allem im nahen Umfeld des Opfers statt." Opfer sind fast immer Frauen. Nur wenige Vergewaltigungen werden an Männern begangen - zumeist von Männern.
Jede vierte Frau zwischen 16 und 85 Jahren wird wenigstens einmal in ihrem Leben von ihrem Partner oder ihrem Expartner körperlich und sexuell angegriffen, hat eine Studie des Bundesfamilienministeriums herausgefunden.
Das reicht von Drohungen und Ohrfeigen bis hin zu schweren Misshandlungen und Vergewaltigungen mit körperlichen und psychischen Langzeitfolgen, von einmaligen "Ausrutschern" bis zu regelmäßigen Übergriffen. Nur 11 bis 22 Prozent der Sexualopfer werden von Unbekannten angegriffen. Tatort ist fast immer die eigene Wohnung.
Warum vergewaltigen Männer? Ist jeder Beziehungspartner ein potenzieller Täter? Nein, sagt die Gewaltforscherin Monika Schröttle vom Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld. Immerhin kommen die meisten Paare ohne Schläge und sexuelle Übergriffe aus.
"Trotzdem ist Gewalt in Paarbeziehungen sehr weit verbreitet und geht durch alle sozialen Schichten. Es gibt weder ein eindeutiges Täter- noch ein eindeutiges Opferprofil." Oder anders gesagt: Der Arzt kann es ebenso tun wie der Hartz-IV-Empfänger, die Ärztin kann es ebenso treffen wie die Bezieherin von Sozialleistungen.
Der Irrglaube, eine hohe Bildung und eine gute soziale Absicherung schützen vor körperlichen und sexuellen Übergriffen, gehört ebenfalls zu den Vergewaltigungsmythen.
Es ist eher das Gegenteil der Fall, wie die Gewaltstudie des Familienministeriums zeigt: "Besondere Risikofaktoren für schwere Gewalt in Paarbeziehungen bestehen vor allem dort, wo entweder beide Partner in schwierigen sozialen Lagen sind, oder dort, wo Frauen ihren Partnern in ökonomisch-sozialer Hinsicht überlegen sind."
Eine Ursache dafür ist in einem traditionellen Rollenverständnis zu suchen, sagt Monika Schröttle: "Viele Männer fühlen sich durch Frauen auf Augenhöhe angegriffen, ihr Männlichkeitsbild wird durch starke Frauen infrage gestellt."
Erstaunlicherweise glauben viele gebildete Frauen, dass sie allein aufgrund ihrer sozialen Stellung und ihres Selbstbewusstseins vor sexueller Gewalt geschützt sind. Ebenso neigen manche Frauen dazu, Opfern eine Mitschuld an der Vergewaltigung zu geben.
"Sie machen die Ursache für den sexuellen Übergriff am Lebensstil oder am Verhalten der Opfer fest. Dadurch fällt es den Frauen leichter zu glauben, dass ihnen so etwas nicht passieren würde", sagt Barbara Krahé. Sie nennt das "Opferabwertung": "In dem Maße, wie das Opfer mitverantwortlich gemacht wird für die Tat, wird der Täter entlastet."
Du gehörst mir
Melanie Thales Mann ist Lehrer, so wie sie. Eigentlich ein kluger, einfühlsamer und egalitärer Mensch, sagt seine Exfrau. Eigentlich. Aber in Trennungsphasen rasten Männer schnell mal aus. Dann kommen Vergewaltigungen besonders häufig vor. Monika Schröttle sagt: "Die Männer wollen demonstrieren: Du gehörst trotzdem mir."
Am Morgen nach der Tat hat sich Melanie Thale ausgiebig geduscht, so lange, als wollte sie das Erlebnis wegbürsten wie hartnäckigen Schmutz. Sie ist nicht zur Polizei gegangen. "Was hätte ich denen denn sagen sollen, wenn die mich gefragt hätten, warum wir trotz Scheidung noch in einem Bett schlafen?" Sie weiß selbst keine Antwort darauf.
Sie hat sich damals so verhalten, wie es viele Frauen nach solchen Erlebnissen tun: Sie versuchen zu verdrängen. Und sie finden Gründe, warum sie ihre Männer nicht anzeigen: "Es war ja nur einmal." - "Er ist doch mein Mann." - "Wir hatten was getrunken." - "Am Anfang habe ich ja mitgemacht."
Katja Grieger zuckt zusammen, wenn sie solche Sätze hört. Eine Vergewaltigung beginne dann, sagt die Psychologin und Leiterin des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, wenn der Mann nicht aufhört, obwohl die Frau eindeutig nein signalisiert hat.
Den Weg zur Polizei scheuen Frauen aber auch, weil sie wissen, dass auf sie eine Tortur aus unangenehmen Fragen und Vernehmungen wartet. Kürzlich hatte der ehemalige Generalstaatsanwalt Hansjürgen Karge in der Talksendung "Anne Will" gesagt, er würde seiner Tochter davon abraten, nach einer Vergewaltigung zur Polizei zu gehen.
Die Opfer würden auf dem Revier und später im Gerichtssaal "noch einmal richtig in die Mangel genommen": "Ihre Sexualpraktiken werden öffentlich breitgetreten. Allein das Gefühl, dass man ihnen nicht glaubt, überfordert Kräfte und Nerven vieler Frauen."
Das ist ein "absolut unzulässiger Rat", sagt Katja Krieger. Würde jede Frau so an die Sache herangehen, gäbe es weder Prozesse gegen die Täter noch Aufklärung in der Gesellschaft. Katja Grieger: "Damit ist den Opfern nicht geholfen."
Ohnehin werden zu wenig Täter verurteilt. Das hat eine europäische Vergleichsstudie der London Metropolitan University ergeben, die am Donnerstag in Berlin auf dem Kongress "Streitsache Sexualdelikte" vorgestellt wurde. Danach werden nur 5 Prozent der Vergewaltigungen angezeigt.
"Die Dunkelziffer liegt also bei 95 Prozent", sagt Barbara Kavemann, Gewaltforscherin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Kommt es zum Verfahren, werden viele wieder eingestellt - in der Regel aus Mangel an Beweisen. Laut Polizeistatistik sind das jedes Jahr 6.000 von 7.300 Ermittlungsverfahren.
In Stuttgart beispielsweise wurde 2009 in 100 angezeigten Vergewaltigungsfällen 34-mal Anklage erhoben, 28 Verfahren wurden eröffnet, 23 Täter wurden verurteilt. Vier Männer wurden freigesprochen. Nur 13 Prozent der Täter in Deutschland werden laut EU-Studie verurteilt. Im Ländervergleich ist das "unterdurchschnittlich".
Melanie Thale hat eine Psychotherapie gemacht, heute lebt sie mit ihrem neuen Freund und dessen Sohn zusammen. Sie hat sich ins Schulamt versetzen lassen, weit weg vom Exmann. Den hat sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück