Vergangenheitsbewältigung in Norwegen: Ein überfälliger Schritt
Norwegens Regierungschefin Erna Solberg entschuldigt sich bei den „Deutschenmädchen“. Eine Entschädigung für erlittenes Unrecht bedeutet das nicht.
Sie waren so kategorisiert worden, weil sie während der Besatzung Norwegens durch Nazideutschland ein Verhältnis mit deutschen Wehrmachtssoldaten hatten. Unrecht habe man diesen Frauen nach Kriegsende angetan, konstatierte Solberg. Man habe sie behandelt wie es einem Rechtsstaat nicht würdig sei. Und dafür wolle Norwegen sich in aller Form entschuldigen.
Und die Regierungschefin gestand auch ein, dass es zu lange gedauert habe, bis Oslo diesen Schritt tue. „Aber wir sind jetzt zu der Überzeugung gelangt, dass norwegische Behörden gegen die Grundprinzipien eines Rechtsstaats verstoßen haben, wonach kein Bürger ohne Urteil bestraft oder ohne ein gültiges Gesetz verurteilt werden darf.“
Schätzungsweise 40.000 bis 50.000 „tyskerjentene“ gab es. Nach Kriegsende wurden sie der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt, teilweise kahl geschoren, misshandelt und als Huren beschimpft. Soweit sie einen deutschen Soldaten geheiratet hatten, verloren sie unter anderem mit Hilfe rückwirkend geltender Gesetze ihre norwegische Staatsangehörigkeit. Tausende wurden zur Zwangsarbeit in Internierungslager gesteckt, nach Deutschland ausgewiesen oder in psychiatrische Kliniken eingewiesen.
Bloße Gerüchte
Was solche ungerechtfertigten Repressalien auslösen konnten, seien teilweise „auch nur ein kurzer Flirt oder manchmal lediglich bloße Gerüchte gewesen“, erklärte Solberg, die sich auch auf eine im vergangenen Jahr erschienene Untersuchung des Norwegischem Zentrums für Holocaust- und Minoritätsstudien (https://www.regjeringen.no/contentassets/144dfe3e59024eea8164741eba3554cc/utredning-om-norske-myndigheters-behandling-av-tre-utvalgte-grupper-etter-andre-verdenskrig.pdf ) bezog.
Die Untersuchung hatte sich nicht nur mit der Behandlung der „Deutschenmädchen“ befasst, sondern auch mit der von Kindern von MitgliederInnen der „Nasjonal Samling“, der norwegischen faschistischen Partei von Vidkun Quisling. Sie war die zwischen 1940 und 1945 einzig zugelassenen Partei und kollaborierte mit der Besatzungsmacht.
Nicht nur da wurden die Repressalien auch auf die Kinder dieser Personengruppe erstreckt, sondern auch bei den Kindern der „tyskerjentene“. Eine Ärztekommission behauptete beispielsweise 1945, dass diese Kinder „minderwertige Gene“ hätten, von denen eine permanente Gefahr für die norwegische Gesellschaft ausgehen könnte.
Frauen, die mit Deutschen „fraternisiert“ hätten, seien im allgemeinen „schwach begabte und asoziale Psychopathen, zum Teil hochgradig schwachsinnig“. Es sei davon auszugehen, dass ihre Kinder dies geerbt hätten. Viele wurden in die Psychiatrie eingewiesen.
Schadensersatz aus Kulanz
Eine Entschädigung für das erlittene Unrecht sei mit der offiziellen Entschuldigung durch den norwegischen Staat nicht unmittelbar verbunden, stellte Solberg klar. Möglicherweise werde es aber in individuellen Fällen nun einfacher werden Schadensersatz aus Kulanz zu erhalten.
Schadensersatzprozesse von „Deutschenmädchen“ und „Deutschenkindern“ waren in der Vergangenheit sowohl vor norwegischen Gerichten als auch dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg wegen Verjährung gescheitert. Oslo hatte 1996 lediglich beschlossen, zumindest die Opfer von Lobotomieversuchen zu entschädigen.
„Aber allein diese Entschuldigung bedeutet schon sehr viel für mich“, erklärte Reidar Gabler im norwegischen Fernsehen: „Auch wenn sie spät kommt.“ Seine Mutter Else hatte 1944 mit 22 Jahren den 25-jährigen Wehrmachtssoldaten Erich Gabler kennengelernt. Ihnen wurden die Söhne Reidar und Arne geboren.
Besonders schlimm sei gewesen, berichtete Reidar Gabler, dass nachdem er als Erwachsener nach Norwegen zurückkehrte, sogar sein kleiner Sohn noch als „Deutschenjunge“ und Nazi beschimpft worden sei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül