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Vereinigungs(zwangs)neurosen

■ Die Stimmung schlägt um

In ihren weichen Betten in Bonn und Oggersheim, in Berlin und anderswo werfen sich seit Monaten vereinigungswillige PolitikerInnen aller Couleur nächtens schlaflos von einer Seite auf die andere. Sie werden gepeinigt von der Vorstellung, daß die nationale Konkurrenz am nächsten Morgen mit einem noch überzeugenderen, noch schneller zu realisierenden, noch preiswerteren „Modell Deutschland“ im Kopf aufwachen könnte: Vereinigungs(zwangs)neurosen, an denen sich selbst der alte Freud die Analytikerzähne ausgebissen hätte. Nahezu stündlich handeln mehr oder weniger berufene DeutschlandpolitikerInnen aus allen staatstragenden Parteien die Ausgeburten ihrer vom „Hauch der Geschichte“ in unbotmäßige Schwingungen versetzten Gehirne auf dem Basar der nationalen Eitelkeiten - frei nach dem Elstner'schen Motto „Nase vorn“.

Dabei haben immer mehr BundesbürgerInnen die Nase voll von Vereinigungswahn und Hauptstadttick. Die in relativem Wohlstand lebenden Bundesdeutschen reagieren zunehmend verunsichert auf die in Bonn demonstrierte „Wiedervereinigungseuphorie“ - und mit blankem Entsetzen auf die „Gürtel-enger-schnallen„-Parolen ihrer gewählten Führer. Der Brass auf die „Zonies“ wächst, und verbalisierte Gewaltphantasien gegen die „Brüder und Schwestern aus dem anderen Teil unseres Vaterlandes“ werden in U- und S-Bahnen mit beifälligem Nicken kommentiert. Jahrelang habe man denen schließlich den „Zucker in den Arsch geblasen“. Und jetzt im Rahmen der Wiedervereinigung - soll „unsere harte Mark“ nur noch die Hälfte wert sein?

Daß die aufkeimende Aversion der bundesdeutschen Kleinbürger gegen die scheinbar unaufhaltsam näherrückende Vereinigung beider deutscher Staaten mit der Abneigung auch vieler Linker gegen die Vereinigung im Schweinsgalopp einhergeht, sollte den außer Rand und Band geratenen VereinigungspolitikerInnen zu denken geben. Weder die „Plebs“, die um ihren materiellen Besitzstand fürchten, noch die Intellektuellen und Humanisten, die sich angesichts der „nationalen Welle“ um den Bestand der liberaler und toleranter gewordenen Gesellschaft in der Bundesrepublik sorgen, haben - nach dem Sprung auch der Grünen auf den deutsch-deutschen D-Zug - ein parlamentarisches Äquivalent. Druck erzeugt bekanntlich Gegendruck. Ob dieses physikalische Gesetzt auch für den mit Verve erzeugte Vereinigungsdruck gilt, werden die nächsten Monate zeigen.

Klaus-Peter Klingelschmitt

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