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Verein Fünf Sprachen auf dem Platz, manche spielen in Jeans – aber alle wissen, was sie zu tun haben: Fußball gilt für Flüchtlinge als Integrationsmotor. Beim TSV Mindelheim sieht man, warumDie Welt ist rund

Aus Mindelheim Manuel Stark (Text) und Michaela Rehle (Fotos)

Der Tag, an dem sich für Mosa Ramadan die Dinge grundlegend änderten, war ein Montag. Trainingstag beim TSV Mindelheim.

Ein Montag wie heute. Auf dem Fußballplatz warten schon die Spieler. Die meisten der Männer tragen Polohemden und T-Shirts, einige wenige haben Trikots berühmter europäischer Clubs übergezogen. Viele Stücke stammen aus regionalen Kleiderspenden. Manche der Spieler tragen kurze, andere lange Sporthosen, manche tragen eine Jeans. Fußballschuhe haben alle. 10 Euro pro Paar mussten sie dafür bezahlen, ein Mindelheimer Sportgeschäft und der TSV übernahmen den Rest.

Die Spieler: Da sind Afrikaner aus Eritrea, Europäer aus Bosnien, Asiaten aus Syrien, Afghanistan und Iran. Es sind 16-jährige Jugendliche und 35-jährige Erwachsene dabei. Sie teilen vor allem einen politischen Status, es sind Flüchtlinge.

Die Schatten der umliegenden Nadelbäume durchschneiden das letzte goldene Tageslicht, während Rufe in fünf verschiedenen Sprachen über den Platz hallen. Kurz vor der gegnerischen Torlinie steht Mosa Ramadan, neongelb, winkt mit seiner erhobenen rechten Hand und ruft etwas in seiner Landessprache, „zu mir“. Seine Mannschaft ist gerade im Angriff. Der Pass kommt hoch, aber er kommt. Annahme. Kurzes Dribbling. Tor. Ein Sturm aus Jubelrufen und Umarmungen bricht über den 21-jährigen Eritreer herein. „Gut gemacht, Mosa!“, ruft der Trainer vom Spielfeldrand.

Mann schießt Trainingstor. Normalzustand auf Tausenden deutscher Fußballplätze.

Aber man muss Mosa Ramadan, 21, nur in seiner Flüchtlingsunterkunft im bayerischen Mindelheim besuchen, eine Stunde von München entfernt, um zu erkennen, dass diese deutsche Normalität für ihn etwas ganz Besonderes ist.

Fragt man am Eingang des Heims nach Mosa, schauen sich ein paar Männer fragend an. Mosa? Mosa, der auch Fußball spielt? Kopfschütteln. Mosa, der Eritreer? Schulterzucken. Mosa Ramadan? „Ah, Ramadan!“, sagt ein junger Syrer, der im Eingangsbereich des ehemaligen Möbelhauses steht.

Kaum jemand in der Unterkunft kenne hier die Vornamen der anderen, sagt er, es sei denn, es handle sich um einen guten Freund. Hier lebe man nebeneinander her, zufällig im selben Haus. „Bewohner wechseln zu oft. Andere Unterkunft in anderer Region. Vornamen sind nicht so wichtig, wenn du dich nicht gut kennst“, sagt er. Er macht sich auf den Weg ins Innere des Hauses. „Mitkommen, ich weiß, wo Ramadan ist.“

Mosa Ramadan ist in Zimmer 323, hinter einer weiß lackierten Holztür mit gelbem Rahmen, direkt gegenüber der Gemeinschaftsküche. Sein Name ist der erste von sechs, die auf ein rechteckiges Plastikschild neben der Tür gedruckt sind. Im Zimmer sind die Betten der Bewohner in beinahe militärischer Ordnung hintereinandergereiht, auf dem letzten sitzt er.

„Wenn ich nicht zu den Mindelkickern gekommen wäre, ich würde hier noch immer kaum rauskommen“, sagt Mosa Ramadan. Lange sei das Bett der wichtigste Platz in seinem Alltag gewesen. Es habe Tage gegeben, da habe er nur dagelegen und gewartet. Einmal etwa, als ihn die Erinnerungen an Zuhause überfielen; seine Eltern wollten ihre Heimat nicht verlassen, die Brüder hingegen konnten nicht fliehen; sie haben beide kleine Kinder, für die eine Flucht zu gefährlich geworden wäre.

Ein anderes Mal, als ein anderer Flüchtling, mit dem er sich angefreundet hatte, in eine andere Stadt verlegt wurde. In seiner Unterkunft schotteten sich Syrer und Afghanen voneinander ab, Eritreer gab es nicht viele, die deutsche Sprache war ihm fremd. Jeden Schritt vor die Tür empfand er als herausfordernd. Was, wenn er sich falsch verhielte? Wenn er jemanden gegen sich aufbrachte? Er war fremd in einem fremden Land.Das war, bevor er Mosa von den Mindelkickern wurde. Als er nur Ramadan war, der halbanonyme Flüchtling. Seine gesellschaftliche Rolle war die eines Manns ohne Eigenschaften. Nun ist er Arbeitnehmer, Freund, Kollege, Stürmer, er nimmt teil am Leben in Deutschland. Der Fußball hat ihm Türen geöffnet.

Als Deutschland bei der EM das Elfmeterschießen gegen Italien gewann, erhob sich in Zimmer 323 des Flüchtlingsheims in Mindelheim ein Stimmengewirr aus Englisch, Deutsch und Arabisch. Freude auf Fußballerisch

Im Frühjahr 2015 hat der TSV Mindelheim eine Abteilung für Flüchtlinge gegründet und in seine Fußballabteilung integriert, die Mindelkicker. Ihr Logo ist auf die Rückseite ihrer roten und neongelben Trainingsleibchen gedruckt, eine Weltkugel und ein Fußball, umrahmt vom Leitspruch der Mannschaft: „Mindelkicker – Football Unites“.

Fußball vereint.

Am Anfang freilich sah es gar nicht danach aus. Vor zwei Jahren war der Spruch nur ein leeres Versprechen. Tarik Yurtseven, der Trainer, sagt, den ersten deutschen Satz, den einige der Spieler fehlerfrei beherrscht hätten, sei „blödes Arschloch!“ gewesen. So sei er beschimpft worden, wenn er Syrer und Afghanen zusammen in gemischte Mannschaften gesteckt habe. Über die ersten Trainingseinheiten sagt er: „Das war kein Spiel mehr, das war Krieg.“

Viele der syrischen Flüchtlinge auf dem Platz sind Gegner der Assad-Regierung. Assads Armee aber rekrutiert den Großteil ihrer Söldner von der ethnischen Gruppe der Hasara aus Afghanistan. Dass kein Afghane in Mindelheim als Söldner in Syrien gekämpft hat, noch nicht einmal einer den Hasara angehört, egal. Das Spielfeld wurde zum symbolischen Schauplatz des politischen Konflikts. Es gab wüste Beschimpfungen, Blutgrätschen und Bodychecks.

Heute bietet sich in Mindelheim ein anderes Bild. Als ein Afghane, in Rot spielend, durch das gestreckte Bein eines Syrers in Neongelb zu Fall gebracht wird, bleibt der Syrer stehen, streckt dem am Boden liegenden Afghanen die Hand entgegen und sagt: „Sorry, man.“

Der Trainer am Spielfeldrand lächelt. „Am Anfang waren die Jungs noch unsicher und vogelwild. In so einer Situation wurde aus Fußball plötzlich Kampf. Inzwischen sehe ich so viele Erfolge, das freut mich“, sagt er. Dann bläst er in seine Trillerpfeife, das Spiel geht weiter. „Ich habe all diese Jungs richtig ins Herz geschlossen.“ Und wenn sie über ihn reden, nennen sie ihn heute „großer Bruder Tarik“.

Mitko Pertemov, weißes Hemd, Jeans, Dreitagebart, sitzt in einem Café in Mindelheims Innenstadt. Er ist Zahntechniker und hat ein Dentallabor. Ständig winken ihm Passanten zu, deren Grüße er mit einem Nicken erwidert. Er scheint beinahe jeden Einwohner der kleinen Stadt im Allgäu zu kennen.

Als ehemaliger Leiter der Fußballabteilung des TSV Mindelheim hat er die Idee der Mindelkicker mit entwickelt. Er war es, der eines Tages im Mindelheimer Flüchtlingsheim auftauchte und alle Bewohner zum Fußballspielen einlud. Mosa Ramadan war einer von denen, die seine Einladung annahmen.

Pertemov, 40, weiß, „wie es ist zu fliehen und in Deutschland vor gar nichts zu stehen“, sagt er.

1975 wurde Mitko Pertemov in Deutschland geboren, wenige Jahre später aber zu den Großeltern nach Jugoslawien geschickt. Seine Eltern, so erzählt er seine Geschichte, waren Gastarbeiter bei einer in Mindelheim ansässigen Produktionsfirma für Strümpfe. In deren Auftrag sollten sie nach Marokko reisen, um dort neue Arbeiter auszubilden.

Juli 1990, was Kroaten und Serben verband

Mehr als acht Jahre lang lebte Mitko Pertemov mit seinem Bruder in einem jugoslawischen Bauerndorf, gelegen im mazedonischen Grenzdreieck zwischen Bulgarien und Griechenland. Zwölf Kilometer war das Dorf seiner Großeltern von der Schule entfernt. Im Sommer fuhr der Bus, im Winter mussten sie laufen. Auf jeden, der zu spät kam, warteten die Lehrer mit einem Stock. Nach der Schule ging es weiter zur Feldarbeit.

Wie große Teile der Landbevölkerung Jugoslawiens lebten auch die Großeltern damals als Selbstversorger und verkauften ihre überschüssige Ernte auf dem Wochenmarkt. Das war sein Sonntagsausflug. Die Badewanne war ein hölzerner Zuber mit kaltem Wasser, das Licht kam von Petroleumlampen.

Aber Mitko Pertemov, in der Mindelheimer Altstadt sitzend, sagt, er sei damals glücklich gewesen. „Es war ein Traum der Freiheit.“ Nach Deutschland zurückzugehen? „Daran habe ich nicht einmal gedacht. Das Land und die Sprache waren mir fremd, in Jugoslawien hatte ich meine Freunde, tolle Noten und wollte Jura studieren. Dort war meine Heimat“, sagt er.

Selbst als er im UKW-Radio seiner Großeltern erfuhr, wie sehr sein Land auseinanderdriftete, als Cousins aus anderen Teilen Jugoslawiens bereits von Schusswechseln berichteten, da stritt Mitko Pertemov noch mit seinen Eltern um den Verbleib in dieser Heimat. Wenige Wochen später sah er durch die heruntergelassenen Fensterscheiben des Autos seiner Eltern, die über die Avtopat A1 Richtung Deutschland fuhren, Panzer.

Es war Juli 1990, Fußball-Weltmeisterschaft. Jugoslawien schlug durch zwei Tore seines Mittelfeldstars Dragan Stojković im Achtelfinale Spanien 2:1. In Italien lagen sich Jugoslawen in den Armen. Wenige Kilometer weiter schwelte ein Konflikt, der zum Krieg führen sollte. „Trauer, Freude und Wut“, beschreibt Mitko Pertemov seine Gefühle damals.

Das Spiel fand wenige Tage nach seiner Ankunft in Deutschland statt, er verfolgte es auf einer Leinwand im jugoslawischen Clubhaus in Mindelheim. Auch dort hätten sich alle in den Armen gelegen, sagt Pertemov. Serbe und Kroate, Mazedonier und Slowene. Auch Deutsche tranken mit. Die einen machte der selbst gebrannte Sliwowitz locker, die anderen solidarisierten sich mit den Menschen, die einst freiwillig als Gastarbeiter nach Mindelheim gekommen waren und nun als Flüchtlinge zurückkehren mussten. Wie Mitko Pertemovs Eltern.

Der TSV Mindelheim nahm ihn nur eine Woche nach seiner Ankunft in Deutschland auf. Sein Vater kannte einige Vereinsmitglieder noch von früher und stellte den Kontakt zum Trainer her. In den ersten drei Wochen holte der ihn jeden Mittwoch persönlich zum Üben ab, danach folgte das Training mit der B-Jugend.

Anders als heute, da es das Mindelkicker-Projekt gibt, existierten damals keine Strukturen im TSV, um Geflüchtete in das Vereinsleben zu integrieren. Pertemov wurde auch so zum Teil des Teams, obwohl er kaum ein Wort Deutsch sprach. „Aber das ist das Tolle am Fußball. Das Runde muss ins Eckige, dafür braucht es keine Worte“, sagt er heute. „Fußball hat mich damals gerettet.“

„Mindelkicker – Football Unites“ steht auf den Trikots. Fußball vereint. Am Anfang freilich sah es gar nicht danach aus. „Das war kein Spiel, das war Krieg“, sagt Trainer Tarik Yurtseven über die ersten Übungseinheiten

Wieso ist wildes Fallenstellen verboten?

Er weiß, wie es manchem der jungen Männern gehen könnte, die heute nach Deutschland kommen. So manche deutsche Selbstverständlichkeit war ihm fremd. Wieso tragen die Leute in Deutschland Hunde auf dem Arm? Wieso darf man erst mit 18 in die Videothek, obwohl man Geld hat? Wieso ist wildes Fallenstellen verboten?

Die Kassiererin der Videothek, erzählt er, habe einmal Bestechung gewittert, als zwei minderjährige Jungs ihr schweigend mehrere Mark auf den Tresen legten. Die beiden – Mitko Pertemov und sein Bruder – hätten nur zeigen wollen, dass sie Geld dabei hatten, sagt er. „Einige Mindelheimer haben sich damals fürchterlich über meinen Bruder und mich aufgeregt. Aber wir wussten es einfach nicht besser.“

Es seien schließlich Freunde aus der Fußballmannschaft gewesen, die ihn mit zu Feiern genommen und ihm die Stadt gezeigt hätten. „Der Fußball erleichtert viel und ist ein grandioses Sprungbrett, eine tolle Basis“, sagt er. Das behauptet auch der Deutsche Fußball-Bund, dessen Egidius-Braun-Stiftung ein großes Förderprogramm aufgelegt hat. Der Werbespruch der deutschen Bundesliga-Stiftung lautet: „Integration gelingt spielend.“

Aber Mitko Pertemov sagt auch: „Wenn du jemanden integrieren willst, dann reicht Bolzen alleine nicht aus.“

Seine Freunde hätten das erkannt, auch sein damaliger Trainer. „Einmal fehlten mir im Training mal wieder die Worte, mir war zum Heulen. Da hat er mich einfach in den Arm genommen und gesagt: ‚Junge, wir kriegen das schon hin, Spielen geht auch erst mal so, die Worte kommen dann schon.‘ Noch heute gehören er und sein Sohn zu meinen engsten Freunden.“

Pertemov wollte nun, dass auch andere diese positiven Erfahrungen machen können.

Durch das Gemeinschaftsleben im Verein und auf dem Platz sollen die Flüchtlinge ein Wir-Gefühl vermittelt bekommen, das ihnen aktiv Integration ermöglicht; das ist die Idee der Mindelkicker. Sie sollen Hilfe bekommen, wenn sie eine Wohnung oder Arbeit suchen oder mal jemanden zum Reden brauchen.

Und tatsächlich, die Idee des Projekts, dass Fußball verbinde, verselbständigt sich hier. Das große zivilgesellschaftliche Engagement, von dem in den vergangenen Monaten viel weniger die Rede war als von Problemen: Hier kann man es sehen. Fußball wird so für manchen Flüchtling zur Chance, Zugang zu einer neuen Gesellschaft zu finden.

Jwan Manla, zum Beispiel, 42, Syrer mit weißgrauem Haar und Stoppelbart. In Aleppo, sagt er, sei er Mediziner für Assads Armee gewesen. Als er im Sommer 2015 verwundete Soldaten in seinem Wagen versteckte und ihnen half zu fliehen, sei er zum Gejagten geworden. Seit einigen Monaten ist er nun hier. Und jubelt bei jedem Mindelkicker-Tor vom Spielfeldrand aus mit.

„Einmal in der Woche gehe ich Tee trinken mit Leuten aus Mindelheim“, erzählt Manla. Das seien zwar keine Fußballer, kennengelernt habe er sie aber beim Punktspiel einer regulären Mannschaft des TSV. Danach hätten sie ihn zum Abendessen eingeladen. Seitdem seien sie Freunde. „Vielleicht“, unterbricht ihn der junge Deutsche, der an diesem Abend neben ihm steht, „möchtest du ja auch mal bei mir vorbeikommen. Morgen Abend koche ich gemeinsam mit Freunden. Hast du Lust?“ Jwan Manla nickt freudig und verbeugt sich kurz.

Freude auf Fußballerischin Zimmer 323

Oder eben Mosa Ramadan, der junge eritreische Mindelkicker. Über den Verein hat er eine Arbeit gefunden, sein Trainer fragte im Freundes- und Bekanntenkreis, aber auch in den anderen Mannschaften des TSV. Drei- bis viermal die Woche jobbt Ramadan nun an einer Tankstelle, die dem Schwager eines Vereinsfreunds gehört. Danach geht er fast immer mit seinen Arbeitskollegen raus in die Stadt, häufig schließen sich dann auch Gleichaltrige an, oft sind es Deutsche aus den anderen Mannschaften des Vereins.

Mit Felix Drexel verbringt Mosa Ramadan besonders häufig seine Zeit. Gemeinsam sitzen sie dann in der Stadt, manchmal reden sie, manchmal schweigen sie. Und sehen den Menschen zu, wie sie scheinbar ziellos über den Platz laufen, an Apotheken, Buchläden und Restaurants vorbei, bis das weiß verputzte Altstadttor sie verschluckt.

An diesem Tag trinken Ramadan und Drexel Tee aus einer Thermoskanne und warten darauf, dass die Sonne untergeht. An anderen Tagen, sagen sie, unterhalten sie sich in einem Café bei einer Zigarette einfach nur über Fußball. „Es ist gar nicht so wichtig, worüber man spricht“, sagt Felix Drexel. „Mosa macht irgendwie alles mit und hat immer seinen Spaß, das steckt richtig an. Nach der Arbeit ist ein bisschen Zeit mit ihm das Beste, um wieder locker zu werden.“

Die Spiele der Europameisterschaft haben er und Ramadan gemeinsam mit anderen deutschen Freunden im Flüchtlingsheim angesehen. Als Deutschland das Elfmeterschießen gegen Italien gewann, explodierte in Zimmer 323 – Ramadans Zimmer – ein Stimmengewirr aus Englisch, Deutsch und Arabisch. Freude auf Fußballerisch.

Beim Training bläst Trainer Tarik Yurtseven in seine Trillerpfeife. Ali Khoshamadi hat den Ausgleich für Team Rot erzielt. Mitspieler bestürmen ihn, wuseln ihm mit den Händen durchs Haar, einer hebt das rote Leibchen etwas an, unter dem der Torschütze ein abgetragenes Trikot der italienischen Nationalmannschaft trägt. „Maestro! Gute Tor!“

Tarik Yurtseven ruft vom Spielfeldrand: „Na, aufgewacht?“ Ali Khoshamadi gibt seinem Teamkollegen High-Five, dann dreht er sich zum Trainer um. „Wenn ich Fußball spiele, bin ich nie müde!“, sagt er und joggt zurück in die eigene Spielfeldhälfte. Der 38 Jahre alte Afghane ist seit den Anfängen bei den Mindelkickern dabei und hat in zwei Jahren kaum ein Training verpasst. Seit einigen Monaten trainiert er auch gemeinsam mit den „Alten Herren“, der Mannschaft des TSV Mindelheim für die Männer jenseits des besten Fußballalters. Er spielt dort im defensiven Mittelfeld, auf der Position, auf der er schon in seiner Freizeitmannschaft im Iran spielte.

Was zählt, ist auch neben dem Platz „Das Runde muss ins Eckige, dafür braucht es keine Worte. Aber wenn man jemanden integrieren will, reicht Bolzen nicht“Mitko Pertemov, 1990 aus Jugoslawien nach Deutschland gekommen, Mitgründer der Mindelkicker

Gerade einmal eine Handvoll der Mindelkicker haben sich bisher dafür interessiert, bei den regulären Mannschaften mitzuspielen. Mit den Deutschen haben sie zwar gern Kontakt; bei gemeinsamen Ausflügen und Festen des Vereins sind viele von ihnen dabei. Aber das Mindelkicker-Training am Montagabend ist für die meisten genug Fußball.

Obwohl gebürtiger Afghane, hat Ali Khoshmadi fast sein gesamtes Leben im Iran verbracht, die meiste Zeit davon als Feldarbeiter. In freien Stunden spielte er Fußball, er erzählt, dass sein Vater ihn dafür verprügelt habe: Als Sohn hatte er hart arbeiten sollen, statt Zeit damit zu verschwenden, einem Ball hinterherzujagen. Aber er habe geträumt, sagt er: vom FC Bayern München, auf dessen Rasen er sich mit Spielern wie Klose, Lahm und Schweinsteiger trainieren sah.

Er ist Maurer – in der Firma eines Vereinskollegen

Die Entscheidung, sich tatsächlich auf den Weg zu machen, fiel im Spätsommer 2012. Ein halbes Jahr lang schuftete Ali Khoshmadi für einen iranischen Großbauern. Zwölf Stunden Feldarbeit am Tag. Den Lohn dafür erhielt er nie, für einen Anwalt fehlte ihm das Geld. Es blieb die Flucht. Gemeinsam mit seiner Frau machte er sich auf den Weg, über das Taurusgebirge in die Türkei und das Mittelmeer nach Griechenland.

Ali Khoshmadi und seine Frau kamen an in Europa, in Deutschland und schließlich auch in Mindelheim. Während seine Frau sich auf ihren Deutschunterricht konzentrierte, wurde Ali Khoshmadi von einem anderen Flüchtling dazu gedrängt, ihn zum Training bei den Mindelkickern zu begleiten. Neben dem Fußball half er bald auch bei Papier- und Altkleidersammlungen und kam zu den Vereinsfesten, obwohl er sich damals kaum besser als mit Händen und Füßen statt Worten verständigen konnte.

Warum Deutschland?, sei er von den Mindelheimern gefragt worden, sagt er. Seine Antwort: „Ronaldo und die anderen Stars sind mir egal, ich finde die Bundesliga toll.“ Das, glaubt er, habe ihm Sympathien eingebracht.

Heute hat Ali Khoshmadi einen Job als Maurer in der Firma eines Vereinskollegen vom TSV und lebt, nur zehn Gehminuten vom Fußballplatz entfernt, zur Miete in einer Wohnung, die dem Schwager seines Trainers gehört. Nach jedem Training der „Alten Herren“, wenn die deutschen Mannschaftskollegen ihr kühles Bier trinken und Ali sein Wasser, ist Zeit zu reden; über Alis Fortschritte im Fußball, über das Leben als Afghane im Allgäu, darüber, wie es seiner Frau gehe und ob er noch immer nach einer Arbeit oder einer Wohnung suche. Sobald ein Problem auftaucht, gebe es jemanden, der hilft, sagt Ali Khoshmadi. Bald möchte er eine Ausbildung zum Fliesenleger beginnen, ein Bekannter von den „Alten Herren“ hat seine Hilfe zugesichert.

Er revanchiert sich mit Einladungen zum Abendessen oder zum Tee. Die Wohnung, in der Ali und seine Frau leben, ist mit zwei Schlafsofas, einem kleinen Tisch und zwei Stühlen eingerichtet. Die kleine Kochnische umfasst zwei Herdplatten und einen hohen Schrank, den die Khoshmadis mit dem gefüllt halten, was sie im Alltag brauchen: Gewürzen, Zitronenteepulver, Reis. Wenn sie Gäste haben, liegt der Duft von Gewürzen und Tomatenreis in der kleinen Wohnung. Zitronentee, Wasser, Apfelschorle und Cola, jeder Gast bekommt ein extra Glas für jedes der Getränke.

Das Trainingsspiel endet unentschieden. 1:0 Mosa Ramadan, 1:1 Ali Khoshmadi.

Ali Khoshmadi muss ins Bett. „Schon 22 Uhr, da bin ich müde. Essen mit Frau und dann schlafen“, sagt er, Schweißtropfen im Gesicht. Mosa Ramadan dagegen geht noch mit Freunden aus Verein und Arbeit aus. Er schultert die graue Sporttasche, schwingt sich auf den Sattel seines Fahrrads und ruft: „über die Bundesliga-Saison reden.“

Manuel Stark, 23, ist Journalist und lebt in München. Er mochte den süßen Zitronentee und den würzigen Tomatenreis bei Ali Khoshmadi

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