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Verdrehte Fahradwelt

■ Ein "umgedrehtes Fahrrad" hilft Wissenschaftlern der Kölner Sporthochschule, automatisierten Bewegungen auf die Spur zu kommen. Waru kippt ein Drahtesel beim Langsamfahren nicht einfach um ? Eine Antwort auf diese...

Ein „umgedrehtes Fahrrad“ hilft Wissenschaftlern der Kölner Sporthochschule, automatisierten Bewegungen auf die Spur zu kommen. Warum kippt ein Drahtesel beim Langsamfahren nicht einfach um? Ein Anwort auf diese Frage sucht BERND RUPPRECHT.

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adfahren ist doch kinderleicht.“ Schließlich überwinden die meisten Menschen die Klippe, sich auf zwei Rädern mittels eigener Muskelkraft vorwärts zu bewegen, im Kindesalter. Innerhalb kurzer Zeit gelingt es, sich im Gleichgewicht zu halten; die Bewegung ist, ohne daß sich jemand darüber den Kopf zerbricht, automatisiert.

An der Kölner Sporthochschule jedoch gibt es ein Fahrrad, das selbst Sportstudenten zunächst mehr Frust als Lust am Radeln einbrockt. Denn um auf dem „inversen“ (umgedrehten) Fahrrad — so nennt es sein Erfinder, der Sportwissenschaftler Roland Seiler — vorwärts zu fahren, muß man rückwärts treten und beim Bremsen den „Vortritt“ einsetzen. Soll sich die Fahrtrichtung ändern, muß entgegengesetzt zur gewünschten Richtung gelenkt werden, daß heißt bei einer Linkskurve nach rechts.

Was beim normalen Fahrrad so gut wie keine Schwierigkeiten bereitet— es am Lenker vorwärts zu schieben —, stellt den Tester des „umgedrehten“ Rades schon vor unerwartete Probleme. Der Drahtesel bricht fast unkontrollierbar nach rechts und links aus.

„Olev“ — so der Kosename des Rades, der passend zur Funktionsweise aus dem rückwärts gelesenen Wort Velo entstand — ist kaum in den Griff zu bekommen. Selbst dann, wenn man fest im Sattel sitzt und den Lenker mit beiden Händen umkrallt hält. Sobald sie die Füße auf die Pedale setzen, schwanken die Tester wie Betrunkene ein, zwei Meter vorwärts.

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enn der Versuch, auf „Olev“ zu radeln, auch manches Schmunzeln bei Zuschauern hervorruft, so ist das Sportgerät dennoch nicht zur Belustigung gebaut. Das „inverse Fahrrad“, unter Seilers Anleitung von Feinmechanikern in über 150 Arbeitsstunden gefertigt, dient dazu, Gedankengängen von Sportlern experimentell auf die Spur zu kommen.

„Radfahren ist eine vollautomatisierte Bewegung“, sagt Seiler, Mitarbeiter des Psychologischen Instituts der Sporthochschule, „niemand muß überlegen, wie er das Gleichgewicht auf dem Fahrrad eigentlich hält.“ Und gefragt, wie sie es anstellen, im Gleichgewicht zu bleiben, würden Radfahrer jede Antwort schuldig bleiben. Denn, so der Wissenschaftler: „Es gibt keine physikalische Theorie des Radfahrens, die zufriedenstellend beschreiben könnte, wie Fahren auf zwei Rädern eigentlich funktioniert.“

Die Versuche mit dem „inversen Fahrrad“ verfolgen mehrere Ziele. Zum einen soll den inneren Prozessen auf die Spur gekommen werden, die zum Erhalt des Gleichgewichts ablaufen. Zum anderen tüftelt der Sportwissenschaftler daran, automatisierte Bewegungen, die nicht mehr der bewußten Kontrolle unterliegen, zum Vorschein zu bringen. „Gelingt mir das, könnte das neue Wissen über automatisierte Bewegungsabläufe bei Bewegungskorrektur und -schulung von Sportlern hervorragend eingesetzt werden.“

Die Erfahrungen mit dem Experiment „Olev“ könnten, meint Seiler, möglicherweise auf andere Sportarten übertragen werden. Als Beispiel führt er den bei Brustschwimmern auftretenden falschen Beinschlag an: Es sei ungemein schwer, die bei manchen Schwimmern automatisierte „Beinschere“ zur korrekten und gleichmäßigen Spreizbewegung beider Beine umzuschulen.

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uf „Olev“ müßten alle Radfahrer wieder bei Null anfangen zu lernen, weil der eingeschliffene Automatismus der Bewegungen gestört sei. Die Testfahrer müssen sich also bewußt machen, welche Bewegungen nötig sind, um das Gleichgewicht zu halten. Erwachsene können, im Gegensatz zu Kindern, erklären, warum sie mit dem inversen Fahrrad nicht zurecht kommen: „Ich habe beim Versuch, das Gleichgewicht zu halten, viel zu stark mit dem Lenker nach rechts oder links korrigiert.“

Mit „Olev“ scheint Seiler auf der Spur des Erfolgs zu sein. Durch seine bisherigen Forschungen sei er auf Erklärungsansätze gestoßen, die bei der Frage „Warum kippt ein Fahrrad beim Langsamfahren nicht um?“ noch nicht berücksichtigt worden seien. Tester hätten beispielsweise geschildert, daß kräftiges Treten der Pedale beim Balanceakt helfe. Zu Ausgleichsbewegungen würde zudem nicht nur der Oberkörper verlagert, sondern auch die Knie zu Hilfe genommen. Dazu kämen noch Steuerbewegungen aus der Hüfte und vor allem aus der Gesäßpartie.

Daß Fahradfahren einmal völlig umgedreht tatsächlich funktionieren kann, haben rund 20 Sportstudenten und der Erfinder von „Olev“ hinreichend bewiesen. Selbst einen „Hindernisparcours“ — rund um einige Kanaldeckel und zwischen engen Betonsäulen hindurch — bewältigen die Fahrer, ohne Schaden zu nehmen. Wenn Ungeübte allerdings die erste Kurve nehmen wollen, „und zwar in die Richtung, wo der Fahrer hinwill und nicht etwa das Fahrrad“, ist, so Seiler, Hartnäckigkeit und Geduld gefragt: „Üben, üben, üben...“

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