Verdrängung im Wrangelkiez: Sie sollen einfach rausfliegen
„Bizim Bakkal“ ist das letzte inhabergeführte Gemüsegeschäft im Wrangelkiez, jetzt soll es weichen. Der Protest dagegen wächst.
Die älteste Gemüsehandlung im östlichen Kreuzberg heißt Bizim Bakkal, was auf Deutsch so viel wie „Unser Laden“ heißt. Ein Berliner Künstler, der die alltäglichen Dinge Kreuzbergs in Öl malt, hat dieses Geschäft verewigt. Das lässt den Schriftzug in grüner Leuchtschrift, die Kohlköpfe, Spargel und Rettiche seltsam bedeutend aussehen. Aber tatsächlich bedeutet der „Bizim Bakkal“ viel mehr: so viel, dass die Nachbarschaft – ohne dass dies wirklich organisiert worden wäre – um den Laden herumstand, auf Autodächern saß, die Straße füllte und zur Verständigung eine Lautsprecheranlage herbeigeschafft werden musste.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Ihre Hauptperson: Ahmet Caliskan. Er stammt aus Burdur, einer kleine türkischen Stadt. Ahmets Vater, Sükrü Caliskan, kam in den 1970er Jahren nach Berlin, arbeitete als Hilfskraft in der Industrie und schaffte es nach etwa zehn Jahren, in der Wrangelstraße einen Laden zu übernehmen. 20.000 Mark Abstand musste er damals dafür bezahlen. Für die Familie war das eine Riesensumme – und ein Riesending.
Damals war Kreuzberg alles andere als hip
Kreuzberg war damals noch sehr grau, und zu kaufen gab es nicht viel. Die Türken wurden noch dazu benutzt, die Häuser abzuwohnen, die bald abgerissen werden sollten. Die meisten Leute gruselten sich davor, in diese öde Gegend zu ziehen.
Ahmets Vater begann mit dem Konzept, ein kleines Sortiment für die typische türkische Küche an die Kreuzberger Türken zu verkaufen. Er lebte im Herzen noch in der Heimat und sagte sich: Türkische Waren für unsere Leute, das ist eine sichere Bank!
Als Sohn Ahmet 1987 mit ins Geschäft einstieg, war er 22 Jahre alt und lebte mit dem Herzen in Kreuzberg. Es war die Zeit, als überall Tischlereikollektive und Kulturhöfe entstanden, und Ahmet hatte dort Freunde. Für ihn war Kreuzberg türkisch und deutsch. Und vieles mehr. Er hielt einen langen Streit über die Zukunft des Geschäfts mit seinem Vater aus, und Bizim Bakkal wurde das, was es heute auch noch ist: ein kleines Obst- und Gemüsegeschäft für alle.
Mit seinen rot-weißen Fußbodenfliesen sieht es wie ein Kaufmannsladen aus alter Zeit aus, hält aber ein breites und gutes Angebot für alle bereit: Ahmet besorgt Beelitzer Spargel und Knopper-Kirschen aus der Region, aber auch Okraschoten und türkische Paprika. Er hat Linda-Kartoffeln für die Vollwert-Leute, und lange bevor dies üblich wurde, hatte er sämtliche Küchenkräuter täglich frisch vorrätig.
Dafür nahm er in Kauf, jede Nacht um zwei Uhr aufzustehen und mit dem Einkauf anzufangen. Er schläft nicht mehr als ungefähr drei Stunden pro Nacht, und das macht er seit 28 Jahren so. Inzwischen ist er darüber grau geworden, er ist 55 Jahre alt und wirkt kräftig und zerbrechlich zugleich.
Dafür kam dann bald die Zeit, als Kreuzberg das wurde, was man „lebenswert“ nennt. Ahmet Caliskan hat seinen Teil dazu beigetragen. Das ist die schlichte Art, es zu beschreiben.
Seine Kundschaft schafft es, Sätze zu sagen wie: „Ahmet ist viel mehr. Der ist einfach da, und sagt gar nicht viel, aber er gibt den Leuten das Gefühl, hier dazugehören. Auch solchen, die noch gar nicht lange hier sind.“ Das ist so wahnsinnig kitschig, dass man es eigentlich gar nicht schreiben dürfte, aber es erklärt, weshalb letztens alles so passierte, wie es passiert ist.
Zunächst wurde das Haus mit dem Geschäft an eine Real Estate verkauft. Dieser Teil der Geschichte ist im Viertel mittlerweile ein so serieller Vorgang, dass er so viel Nachrichtenwert hat wie: ein Blatt fällt vom Baum. Über Jahrzehnte hatte das Haus einer Privatperson gehört. Nun erwarb es eine „Gekko Real Estate“ mit Sitz in Offenbach am Main und gründete eigens eine GmbH – die Wrangelstraße 77 GmbH –, um es zu vermarkten.
Das Geschäft wird in dritter Generation geführt
Der Familie Caliskan wurde gekündigt. Ahmet Caliskan versuchte noch, mit der Verwaltung eine Einigung zu erreichen. Er versuchte, klarzumachen, dass Bizim Bakkal ihr Familieneinkommen sichert. Dass sein Sohn jetzt schon in der dritten Generation hier arbeite. Dass das Geschäft im Viertel wichtig sei. Dass er sogar bereit wäre, einen neuen Vertrag zu unterschreiben, und mehr Miete zu bezahlen. Als er nicht weiter kam, erzählte er es seiner Kundschaft.
Ein Lehrer aus der Nachbarschaft, der es hörte, tippte die Nachricht auf ein Papier und legte es im Café neben Ahmets Laden aus. Eine Ärztin aus der Nachbarschaft kopierte es, zog los und brachte Stapel davon in andere Geschäfte in den umliegenden Straßen. Der Zettel, der zum Nachbarschaftstreffen für Ahmet in ebenjenem Café einlud, tauchte in allen möglichen Hausfluren auf. Die Leute hatten ihn großkopiert.
Kurz bevor es losgehen sollte, war klar, dass das Café für den Andrang zu eng wäre. Erst trug man die Tische raus und die Leute brachten von zu Hause mehr Stühle mit. Dann räumte man die Stühle auf die Straße und beschloss, draußen zu tagen. Im nächsten Schritt räumte man die Stühle wieder weg, weil die Leute ohnehin alle standen. Erst in mehreren Reihen, dann bis zur anderen Straßenseite, dann hocken einige auf Autodächern. Und um in der Menge reden zu können, bringt irgendjemand eine Lautsprecheranlage. Weil die nicht funktioniert, nimmt man schließlich ein Megafon.
Um genau zu sein, war es ziemlich umwerfend. Das östliche Kreuzberg gilt als derart endgentrifiziert, von Ferienwohnungen durchsetzt und von Touristen übernommen, dass vermutlich niemand damit gerechnet hätte, dass es einen „Kiez“ überhaupt noch gibt, der bereit und in der Lage ist, so eine Urform von Öffentlichkeit herzustellen. Das Ganze sah aus wie die vielen Bewohner eines Mehrgenerationenhauses beim Ausflug, bei dem die Großväter Ringe im Ohr und die Großmütter Heiner-Müller-Brillen tragen.
Auch Türken in ihren Anzügen sind da, aber von ihnen weniger. Eine junge Mutter, lackierte Fußnägel und langes Haar, die sich daneben zart ausnimmt, erzählt, sie sei Kind eines Kreuzberger Wohnprojekts und hätte als Mädchen bei Ahmet ihre ersten Bonbons gekauft. Sie ist ziemlich still. Auch Ahmet selbst ist recht still, steht vor seinem Laden, und nur als er gefragt wird: Ahmet, du bist doch die Hauptperson, sag mal was, nimmt er das Megafon und sagt: Ich will gern weitermachen. Danke, dass ihr gekommen seid!
Inzwischen formiert sich schon breiterer Einsatz für Ahmet Caliskan. Ein Netzwerk, lokal.leben, ist aktiv geworden, das in touristisch übernutzten Stadtvierteln Konflikte moderiert. Die Unterstützer haben Gruppen gebildet, betreiben Öffentlichkeitsarbeit, sammeln Unterschriften und planen weitere Aktionen. Sie haben ein Logo entworfen: „Bizim Kiez“, das jeder dritte Ladenbetreiber im Viertel in seinem Schaufenster zeigt.
„Nicht noch ein Sushirestaurant“
Und natürlich bedeutet das alles viel mehr. Denn mit Bizim Bakkal geht nicht nur das letzte inhabergeführte Gemüsegeschäft im Viertel verloren. Tatsächlich war beim spontanen Menschenauflauf vor Ahmets Lädchen etwas zu spüren, das als Worthülse oft bemüht wird, aber nur selten wirklich da ist: Wut. Die Anwohnern „wollen Ahmet“ und „brauchen kein weiteres Sushirestaurant“. Dass die halbe Berliner Innenstadt inzwischen ausverkauft ist, scheint nicht immer nur zu einer Abstumpfung zu führen, sondern mitunter auch zu einem tatsächlichen Ende des Toleranzbereichs.
Mit Läden wie Bizim Bakkal ist es wie mit alter Bausubstanz von Städten. Wenn Ahmet Caliskan aus Kreuzberg weggehen wird, wird so etwas wie sein Laden nicht wieder herstellbar sein. Neu geht immer. Aber bis ein Laden über drei Generationen in einem Viertel verwurzelt ist, braucht es viel Zeit – und eben drei Generationen. Die Strukturen, die die Deutschtürken der zweiten Generation aufgebaut haben, die etwas Eigenes und Besonders hervorgebracht haben, werden verschwinden. Das ist ein Verlust von Kultur.
Es ist ein bisschen so, wie wenn ein Ort seinen alten Kirchturm noch hat – oder eben nicht. Würde jemand heute einen Kirchturm zerstören wollen, würden das alle als Barbarei ansehen. Und man würde viel tun, um das zu verhindern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen