: Verbrennt die Akten!
■ betr.: „Das kürzeste Verfahren“, taz vom 31.10. 94, „Gysi: Sie jagen mich...“, taz vom 4.11. 94, „Nicht beantwortete Fragen“, taz vom 11.11. 94, „Prophet der Wahrheit“ (Der Schriftsteller Stefan Heym und die Macht), taz vom 8.11. 94, „Versiert im Umgang mit der Macht“, taz vom 12.11. 94
Schorlemmers Vorschlag, die Archive zu schließen und die Akten zu verbrennen, habe ich bisher für verfehlt bis verwerflich gehalten; ich habe meine Meinung geändert.
Nach der quälenden Lektüre der Auseinandersetzung zwischen Gysi und den Bürgerrechtlern (vier Seiten Bleifriedhof) und diverser anderer Beiträge zum Thema, die alle zur Aufklärung der Sachverhalte nichts, gar nichts beigetragen haben, nach den schon kriminellen Vorgängen um Stefan Heyms Bundestagsrede (diesmal, überraschend, ein Lob der taz: Ihre Berichterstattung war ausführlicher und besser als die der FR), nach der späten Aufklärung des „Falles“ Nollau (FR vom 14.11. 94) kann man Schorlemmer nur noch uneingeschränkt zustimmen. Die sogenannte „Aufarbeitung der Vergangenheit“ findet nicht statt anhand von Akten und schon gar nicht anhand von Stasi-Akten. Der weltkluge Herr Pfarrer hat ja auch nicht dafür plädiert, alles im Weihwassertopf der christlichen Nächstenliebe zu ertränken und zu vergessen, er hat pragmatisch und politisch argumentiert und – leider – recht behalten.
Zwei Themenbereiche bleiben, deren Behandlung allerdings einer intellektuellen Redlichkeit bedürfte, die sich von dem ziemlich unsinnigen Begriff der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ löste (auch weil in der Regel eher „Umarbeitung“ intendiert ist) und auf Verständigung, Verständlichkeit und Klärung der unterschiedlichen Selbstverständnisse zielte – auf Vorbereitung eher als auf Nachbereitung.
Heym hat darauf verwiesen, daß es auch positive Erfahrungen des Lebens in der früheren DDR gebe, die für eine gemeinsame Zukunft zu übernehmen sich lohnte: das Recht auf Arbeit zum Beispiel und das gesicherte Dach überm Kopf. Heftiger Protest aus sehr verschiedenen politischen Richtungen hat ihm geantwortet, der Preis sei viel zu hoch gewesen und er habe ihn zu benennen unterlassen. Hat er nicht – aber die eigentliche Frage ist doch, ob Konsens herbeizuführen sein wird über die Schutzwürdigkeit solcher Rechte und über den Preis, den eine Gesellschaft dafür zu akzeptieren bereit ist, die sich (etwas voreilig) das Wort sozial an ihre Fahne geheftet hat. Kann Einverständnis darüber erzielt werden, daß der Begriff des sozialen Etwas weiter reicht als bis zur „Gewährung“ von Sozialhilfe?
Der zweite Themenbereich betrifft das Verhalten exponierter Personen und Institutionen in der früheren DDR, exemplarisch diskutiert am Beispiel der Schriftsteller und der Kirchen: Hätten die Schriftsteller sich verweigern, schweigen oder ausreisen müssen, die Kirchen in offenem Widerstand sich einigen? Oder sind das Forderungen eines moralischen Fundamentalismus, der – vom sicheren Port argumentierend und nicht in Gefahr, sich beweisen zu müssen – zu billig zu haben ist, um überzeugen zu können? Wird hier Moral verteidigt oder meistbietend versteigert?
Ansatzweise ist diese Diskussion geführt worden, als die Wogen hochgingen um die „Fälle“ Stolpe und Heiner Müller (da hat die taz sich nur mit wenig Ruhm bekleckert), um sich alsbald zu blamieren an der hirnrissigen Frage, ob Stolpe einen Orden oder eine Medaille erhalten habe und ob das im Hinterzimmer oder in den vorderen Räumen geschehen sei.
Die Fragen waren zu dumm, die Argumente zu dünn, die – wenigen – Fakten zu albern, um Stolpes Popularität oder Müllers souveränen Witz erschüttern zu können. So ist es denn bei schlichten Beschimpfungen geblieben: Er hat mit dem Teufel gefrühstückt, sein Löffel war zu kurz, bespeit ihn...
Verbrennt die Akten. Hajo Seidel, Frankfurt am Main
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