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Verächtliche Gleichgültigkeit

Zum internationalen Antisemitismus heute: zwei Neuerscheinungen  ■ Von Peter Reichel

Nach Auschwitz schien Antisemitismus — nicht nur hierzulande — lange ein unmögliches Vorurteil zu sein. Doch ist sogleich zu fragen: unmöglich inwiefern? Unmöglich, weil es in den meisten europäischen Ländern — fast — keine Juden mehr gibt und auch keinen organisierten Antisemitismus? Unmöglich, weil der traditionelle Antijudaismus und der moderne Antisemitismus durch Aufklärung überwunden und als Krisenideologie zudem obsolet geworden wären? Oder unmöglich, weil — wie in der Bundesrepublik — unter Strafe gestellt wurde, was entschieden zum größten Staatsverbrechen aller Zeiten beigetragen hatte? Unmöglich also, weil nicht sein konnte, was nicht mehr sein durfte? Die neuere, international-vergleichende sozialwissenschaftliche Antisemitismusforschung belehrt uns inzwischen eines besseren. Der Antisemitismus lebt fort. Weltweit. Der neue Antisemitismus ist — um mit der Bundesrepublik zu beginnen — im Unterschied zur traditionellen und christlichen Judenfeindschaft und zum völkischen Antisemitismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kaum noch religiös oder rassistisch motiviert. Er hat sein Bezugs- und Artikulationsfeld vielmehr in einer geschichtlichen (Auschwitz) und internationalen (Israel) Problematik, die zwar nicht als existentiell bedrohlich empfunden wird, aber doch als lästig, diskriminierend und ungerecht. Wie sehr der neue Antisemitismus mit unserer NS-Vergangenheit und zugleich mit dem Wunsch nach Normalisierung verknüpft ist, illustrieren zahlreiche Umfragen. Fast die Hälfte der Befragten befürchten, daß die Juden die Deutschen „immer wieder an ihre Schuld erinnern“ werden — und an ihre besondere Verantwortung für die Sicherheit und Existenz Israels, wie jetzt, während seiner jäh akut gewordenen Bedrohung durch den Golfkrieg. Aus dem Mißverhältnis von Normalisierungswunsch und befürchteter Nichterfüllung sieht die neuere Antisemitismusforschung einen „sekundären Antisemitismus“ (Werner Bergmann, Rainer Erb und andere) hervorgehen.

Antijüdisch eingestellte Personen nehmen überdurchschnittlich häufig an, daß „die Juden die Deutschen nicht aus ihrer Schuld entlassen“ werden. Und mehr als zwei Drittel der judenfeindlich eingestellten Bevölkerung sehen in den Juden gar „schuldige Opfer“.

Wie schwierig der Umgang mit diesen Fragen selbst für solche Gruppen ist, die ihrem politischen Selbstverständnis nach erklärtermaßen in einer antifaschistischen Tradition stehen, zeigt seit geraumer Zeit die an Irritationen reiche Israel-Diskussion der Grünen, die Martin W. Kloke nachzeichnet. Zu einem ersten Eklat kam es anläßlich der Nahost- und Israel-Reise von Grünen-Abgeordneten im Dezember 1984, als schon vorab dezidiert Israel-kritische Positionen und Einstellungen bekannt geworden waren. Sie bescherten der Gruppe von Anfang an ein negatives Echo in Israel. Trotz zahlreicher Dementi gelang es den Grünen nicht, sich vom Antisemitismus- und Antizionismus-Vorwurf der Israelis zu befreien — auch deshalb, weil der gleichsam inoffizielle Charakter ihres Besuchs der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ebenso auf Befremden stieß wie die auf der abschließenden Pressekonferenz einmal mehr benutzte, ebenso geschichtslose wie relativierende Formel von den Palästinensern und zugleich das Existenzrecht Israels zu betonen. Die Bundestagsfraktion der Grünen korrigierte das dann mit einem eigenen Aufruf. In der Folgezeit verstärkte sich dann die Position derer, die sich mit dem „Sympathiebonus für die Palästinenser“ nicht identifizieren mochten. Nach langer interner Auseinandersetzung verabschiedete die Grünen-Fraktion schließlich im Oktober 1987 eine Erklärung, die auf der Grundlage des Zweistaatenmodells beiden Seiten, Palästinensern wie Israelis Unterstützung versprach, sofern diese sich wechselseitig als unmittelbare Konfliktparteien anerkennen würden.

Doch schon bald kam es zu einem neuen Eklat. Diesmal wurde er von Realos ausgelöst. Einige hatten sich auf einer Art Wiedergutmachungsreise nach und durch Israel dort auch mit religiösen und rechtsgerichteten Repräsentanten getroffen, so auch mit Vertretern der extremistischen Siedlerbewegung „Gush Emunim“. Das mochte manche Israelis versöhnlich stimmen, die Grünen zu Hause reagierten ziemlich unversöhnlich. Gleichwohl: Die plakative und polemische Rede von einem „grünen Antizionismus“ hat allenfalls in der Frühzeit der Grünen eine gewisse Berechtigung gehabt, andererseits dürfte wiederum nur eine Minderheit soweit gehen wie Joschka Fischer, der seinerzeit dafür eintrat, im Angesichts von Auschwitz und Treblinka „auf das Recht der Kritik“ an den Israelis überhaupt zu verzichten.

Die informativen, anregenden und durchweg gut lesbaren Beiträge in den beiden hier anzuzeigenden Sammelbänden zum Antisemitismus nach Auschwitz beschränken sich jedoch erfreulicherweise nicht auf das deutsche Beispiel, so wichtig dieser Fall ist und bleibt. Vor allem der von Strauss, Bergmann und Hoffmann herausgebene Band rückt das heutige Antisemitismus-Problem in eine international-vergleichende Perspektive, ohne damit zugleich in die Gefahr einer verharmlosenden Relativierung zu geraten, welche die nationalen Besonderheiten verwischt und mit der empirisch-analytischen Differenzierung nicht selten die Eindeutigkeit des moralischen Urteils verliert.

Auch der Anmtisemitismus vor 1945 war — als säkulare Ideoloie der (vermeintlichen) Erklärung und Überwindung von Krisen und Widersprüchen der modernen kapitalistischen Welt — ein internationales Phänomen. Der neue, gleichfalls internationale Antisemitismus unterscheidet sich von jenem vor allem durch seinen veränderten Bezugsrahmen: die Ermordung von Millionen europäischer Juden durch die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs und die Gründung und Existenz Israels als eine unmittelbare Konsequenz daraus.

Schon einen Tag nach dem UN- Teilungsbeschluß vom 29.November 1947 setzte die erste antiisraelische Terrorwelle ein. Die Bedrohung Israels in der Region hat in den vergangenen zehn Jahren vor allem durch eine Bewegung zugenommen: die von Pakistan und Marokko reichende Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus. Auch wenn er bisher nur in wenigen Länder die politische Klasse stellt, die kulturelle Hegemonie hat er fast überall erlangt. Dabei speist sich diese kulturelle Bewegung aus zwei Kräften: der Rückkehr zu islamischer Ursprünglichkeit und dem „juhad“, dem „heiligen Krieg“ gegen die westliche „Infizierung“ (Khomeini) der arabischen Staaten (insbesondere der Modernisierungsregime des Schah oder der Sadat/Mubarak).

Die „verächtliche Gleichgültigkeit“, die — so Emmanuel Siran in seinem Beitrag — lange die fundamentalistische Haltung gegenüber Israel bestimmt hatte, schlug mit dem Debakel und der tiefen Demütigung des Sechs-Tage-Kriegs jäh in Haß und antizionistische Verteufelung um. Die israelische Invasiuon in den Libanon und die Belagerung der arabischen Hauptstadt Beirut empfanden die Fundamentalisten als „zehnten Kreuzzug gegen den Islam“. Trotz aller Differenzen zwischen dem israelisch-schiitischen Radikalismus und dem arabisch-sunnitischen Fundamentalismus, trotz aller innerislamischen Konflikte, zunächst im irakisch-iranischen Krieg und dann im Golfkrieg: In der fundamentalistischen Mytholgie und Dämonologie sind die Israelis — als Vorposten der Amerikaner — so etwas wie die „Mongolen des 20.Jahrhunderts“. Insofern bleibt der islamische Antizionismus und Antisemitismus eine ständige Bedrohung für Israel.

Andererseits werden diese israelfeindliche Emotionen immer wieder durch die aggressive Haltung der Schamir-Scharon-Regierung geschürt. Nicht zuletzt dadurch, daß die in jüngster Zeit in wachsender Zahl nach Isarel einwandernden russischen Juden auch und gerade in den letzten Jahren zunehmend Opfer der Diskriminierung und Verfolgung durch den alten und neuen russischen Antisemitismus geworden sind. Der Perestroika-Prozeß hat der Judenfeindschft in der Sowjetunion einen neuen Entfaltungsraum verschafft. In der nationalistisch-rechtsgerichteten Pamjat (= Erinnerungs)-Bewegung besitzt er seit längerem eine schlagkräftige und kulturell einflußreiche Organisation. William Korey setzt sich mit der jüngsten Entwicklung auseinander.

Antisemitismus ist auch in der Sowjetunion strafbar. Michail Gorbatschow hat das öffentlich bekräftigt. Doch Gerichtsverfahren wegen antisemitischer Äußerungen und Aktionen sind bisher nicht bekannt geworden. Die führenden Vertreter dieser Bewegung können ungehindert in Erscheinung treten, zumal sie sich bemühen, die KDdSU nicht direkt herauszufordern. Der russische Antisemitismus ist tief im vorrevolutionären Rußland verwurzelt. Er greift heute wieder ausdrücklich auf die berüchtigte zaristische Fälschung, die „Protokolle der Weisen von Zion“ zurück.

Doch nicht nur in der Sowjetunion, auch in Polen, dem zweiten osteuropäischen Land mit einer — in der Vorkriegszeit — nach Millionen zählenden jüdischen Bevölkerung hat sich der Antisemitismus behauptet. Daß es auch hier eine breite antisemitische Strömung gibt, die auf die nationalistische und katholische Judenfeindschaft der Vorkriegszeit zurückgeht, haben die zahlreichen Diskriminierungen und Verfolgungen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder sichtbar gemacht. Die Beispiele sind zahlreich und reichen von dem Pogrom in Kielce, der im Frühjahr 1946 mehr als fünfzig Tote forderte, über die antijüdischen Hetzkampagnen und Säuberungsaktionen der polnischen Kommunisten in den späten sechziger Jahren, die nicht zuletzt antisemitisch begründete Unterdrückung von Solidarność oder die Shoah-Debatte um den gleichnamigen Lanzmann-Film in den achtziger Jahren, bis zum Streit um das Karmeliterinnen-Kloster in unmittelbarer Nachbarschaft des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz- Birkenau. Selbst dorthin also konnte der Antisemitismus zurückkehren.

Auschwitz und Israel sind nicht nur für uns Deutsche, aber für uns eben in besonderer Weise, unverrückbare Bezugspunkte für die Bewertung unseres Handelns. Das schließt eine sachverständige, differenzierte und behutsame Kritik israelischer Innen- und Außenpolitik gewiß nicht notwendig aus. Allerdings sieht sich diese Kritik beständig mit dem unauflöslichen Dilemma einer historischen Tragik konfrontiert, die Isaac Deutscher vor mehr als drei Jahrzehnten so auf den Begriff gebracht hat: „Sechs Millionen Juden mußten in Hitlers Gaskammern umkommen, um Israel ins Leben zu rufen. Es wäre besser gewesen, Israel wäre ungeboren geblieben, und die sechs Millionen Juden wären noch am Leben — aber wer kann den Zionismus und Israel dafür verantwortlich machen, daß es anders gekommen?“

Herbert A. Strauss / Werner Bergmann / Christhard Hoffmann (Hg.): Der Antisemitismus der Gegenwart , Campus Verlag, 275 Seiten, 29 DM.

Außerdem zum Thema, allerdings mit stärkerem Bezug auf den westdeutschen Antisemitismus:

Werner Bergmann / Rainer Erb (Hg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945 , Westdeutscher Verlag, 348 Seiten, 54 DM.

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