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VOR NEBENWIRKUNGEN SCHÜTZEN WEDER ÄRZTE NOCH POLITIKERDas Medikament als Risiko

Der Skandal um den Fettsenker Lipobay weitet sich aus. Die Anwälte der Opfer und Angehörigen überziehen den Pharmakonzern Bayer mit langwierigen und lukrativen Sammelklagen. Der Kurs der Aktie fällt. Das Gesundheitsministerium wirft Bayer schwere Versäumnisse vor – darunter, neue Erkenntnisse über Risiken und Gefahren durch Lipobay zwei Monate zurückgehalten zu haben. Das Unternehmen weist alle Vorwürfe zurück und erklärt, es habe den zuständigen Behörden rechtzeitig alle Informationen vorgelegt.

Dieser Streit um die Schuld verdeckt, dass sich aus dem Lipobay-Skandal für die Zukunft wenig Konsequenzen ziehen lassen. Denn selbst wenn die klinischen Studien, in denen Medikamente getestet werden, von bisher 5.000 auf 50.000 oder gar 500.000 Probanden ausgedehnt würden, wäre das keine Garantie für mehr Sicherheit. Dass Nebenwirkungen oder gar Todesfälle auftreten, lässt sich nicht vermeiden, indem man eine größere Zahl Menschen zu Versuchskaninchen macht. Daran gibt es nichts zu deuteln. Es klingt zynisch, aber die Entwicklung neuer Medikamente und anderer Therapien gelingt nur um den Preis von Komplikationen – bis hin zu Todesfällen.

Falls es wirklich zu Verzögerungen bei der Meldung der Nebenwirkungen gekommen ist, muss Bayer dies zum Vorwurf gemacht werden. Am grundsätzlichen Problem einer nie hundertprozentig zu erreichenden Sicherheit der Arzneimittel ändert dies jedoch nichts – andere Behauptungen wären heuchlerisch. Um das zu sagen, muss man wahrlich kein Freund der Pharmaindustrie sein. Nur will es keiner der Verantwortlichen aussprechen und keiner der Konsumenten wirklich hören, dass immer ein „Restrisiko Medikament“ bestehen wird.

Zigtausende Menschen sterben jährlich an Nebenwirkungen von Aspirin. Es sind Nebenwirkungen, die seit Jahren bekannt sind – trotzdem werden sie in Kauf genommen. Von der Substanzgruppe der Statine, zu denen Lipobay gehört, weiß man ebenfalls seit ihrer Einführung, dass sie zu Muskelschwäche bis hin zum tödlichen Muskelzerfall führen können. Das liegt in der Natur ihres – erwünschten – Wirkmechanismus, so wie die durch Aspirin gewünschte Blutverdünnung eben auch zu gelegentlich tödlichen Blutungen führt. Die nebenwirkungsfreie Arznei ist bisher noch nicht erfunden worden. Dies sich ständig vor Augen zu führen, zerstört allerdings den Glauben an einen risikolosen Fortschritt der Medizin ebenso wie die Hoffnung auf eine Therapie für alle Bedürfnisse. Das allerdings kann Bayer nicht zum Vorwurf gemacht werden. WERNER BARTENS

Der Autor ist Arzt und Redakteur der Badischen Zeitung

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