VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG IN RUANDA: AUF DEM WEG ZUR WÜRDE: Ende des erzwungenen Schweigens
Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden bisher meistens zentralistisch geahndet. Denn Menschenrechte sind universell, ihre Verletzung soll daher weltweit nach einheitlichen Standards verfolgt werden. In dieser Logik ist der Gipfel der Weisheit eine globale Instanz wie der geplante Internationale Strafgerichtshof. Aber mit einer bürgernahen Justiz hat das wenig zu tun.
Nirgendwo auf der Welt ist das Unvermögen normaler juristischer Institutionen, mit Massenmorden umzugehen, deutlicher geworden als in Ruanda. Sieben Jahre nach dem Völkermord an 800.000 Menschen sind nur acht Prozesse vor dem eigens dafür eingerichteten UN-Tribunal zu Ende geführt worden, und von den 125.000 Menschen, die wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung an den Morden ins Gefängnis kamen, wurden weniger als 3 Prozent verurteilt. Der ruandische Völkermord droht in Vergessenheit zu geraten, bevor er aufgeklärt und geahndet ist.
Nun will Ruanda in traditionellen Dorfgerichten, so genannten gacaca, die Inhaftierten jedes Dorfes vor die eigenen Nachbarn treten lassen. Sie berichten öffentlich über die Ereignisse von 1994; anschließend können gewählte Laienrichter Schuld oder Unschuld feststellen und Strafen verhängen. Es ist ein ungewöhnliches Vorgehen, das die klassischen Unterscheidungen zwischen Öffentlichkeit und Zeugen, zwischen Anklage und Verteidigung aufhebt und selbst die Grenzen zwischen einem Gerichtsprozess und einer Wahrheitskommission fließend erscheinen lässt.
In Ruanda entstehen sozusagen 11.000 kleine Wahrheitskommissionen, die nicht nur die Möglichkeit zur Amnestie haben wie in Südafrika, sondern auch die zur Aburteilung. Bei der Aufarbeitung von organisierter Gewalt gegen politische oder ethnische Feinde ist es tatsächlich sinnvoll, einen Mechanismus zu finden, der die einfachen Menschen, die sämtlich Opfer, Täter oder Zeugen waren, aus ihrem erzwungenen Schweigen entlässt. Dieser Mechanismus wird in jedem Land anders heißen und aussehen. Er hat auch vielleicht wenig mit unserem Verständnis eines ordentlichen Rechtssystems zu tun. Aber er ist wichtig, um den Menschen ihre Würde zurückzugeben und gesellschaftliche Fortschritte in Gang zu setzen. Denn eine erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung misst sich nicht an der möglichst lupenreinen Einhaltung abstrakter Rechtsnormen, sondern an der Wirkung auf die Zukunft.
DOMINIC JOHNSON
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