VAR-Elfmeter für England im Halbfinale: Wirkmächtiger Videobeweis
Auch der Videobeweis kann nicht verhindern, dass über Elfmeterentscheidungen gestritten wird. Sinnvoll wäre es, die Regeln nachzuschärfen.
Elfer oder nicht? Nach dem Halbfinale zwischen England und den Niederlanden wurde intensiv darüber diskutiert, ob der Strafstoß, den Harry Kane verwandelt hat, wirklich hätte gegeben werden müssen. Man mag ja von dieser Videoschiedsrichterei halten, was man will, eines hat sich durch die Technisierung des Fußballs nicht geändert: Mit Diskussionen über Schiedsrichterentscheidungen, die mit VAR-Unterstützung getroffen werden, lassen sich wochenlang ganze Stammtischabende bestreiten.
Mit offener Sohle, wie es so schön heißt, war Denzel Dumfries in der Szene, die zum Elfmeter führen sollte, zum Ball gegangen. Den hatte Harry Kane indes schon Richtung Tor abgefeuert, als Dumfries' Schuhsohle Kanes Bein traf. Am Torschuss hat er ihn jedenfalls nicht gehindert. Demnach könnte man glatt sagen, Schiedsrichter Felix Zwayer lag ganz richtig mit seiner Einschätzung, nicht auf den Punkt zu zeigen. Die Videoschiedsrichter müssen das für eine grobe Fehleinschätzung gehalten haben und schickten Zwayer an den Monitor. Der ließ sich von den Bildern überzeugen und zeigte auf den Punkt.
Derweil machten in sozialen Medien erste Bilder die Runde, die zeigen sollten, dass Englands Bukayo Saka den Ball mit beiden Armen berührt haben soll, bevor der zu Harry Kane gesprungen ist. Kann es wirklich sein, dass sowohl der Schiedsrichter auf dem Feld als auch die Videoreferees da etwas übersehen haben? In den Nachbetrachtungen unmittelbar nach dem Spiel war von dem vermeintlichen Handspiel nichts zu sehen. Erst über Nacht baute sich in den sozialen Medien die Wut auf. Die Niederlande seien beraubt worden, war da der Tenor.
Auch das wäre durchaus eine hübsche Erkenntnis, dass auch in Zeiten des Videobeweises ein Handspiel im Strafraum einfach übersehen werden kann. Der VAR menschelt. Wer kennt nicht die Situationen, in denen man etwas Wichtiges übersieht, weil man sich gerade auf etwas anderes in der Nähe konzentriert? Eins ist jedenfalls gewiss: Wäre das Handspiel erkannt worden, und wäre daraufhin eine Entscheidung in die eine oder die andere Richtung gefällt worden, auch darüber wäre noch lange diskutiert worden. So wie es immer noch deutsche Fans geben soll, die sich auch eine Woche nach dem Ausscheiden gegen Spanien noch darüber aufregen, wie ungerecht die gastgebende Fußballnation doch behandelt worden sei, weil es keinen Elfmeter gegeben hat, nachdem Marc Cucurella den Ball im Strafraum mit dem Arm berührt hat.
Elfer oft spielentscheidend
Es ist eine der selteneren Szenen in diesem Turnier gewesen, in denen die Schiedsrichter im Zweifel einmal nicht auf den Punkt gezeigt haben. Beim Spiel der Deutschen im Achtelfinale gegen Dänemark hatten die Deutschen noch einen Handelfmeter zugesprochen bekommen, über den an dänischen Stammtischen vielleicht noch lange gelästert wird. Im statischen Verteidigungsfußball, bei dem neun Spieler in zwei Reihen vor dem eigenen Tor postiert werden und der bei dieser EM ein traurig anzusehendes Comeback feiert, sind Tore nach einem Elfmeterpfiff nur allzu oft spielentscheidend. Kein Wunder also, dass die Diskussionen über diese wirkmächtigen Schiedsrichterentscheidungen nicht enden wollen.
Am Ende werden sie vielleicht dazu führen, dass die Handspielregel wieder mal ein wenig nachgeschärft wird. Vielleicht gibt es ja beim nächsten Turnier auch wieder andere Handreichungen für die Schiedsrichter, die vor dieser EM angewiesen worden sind, bei gesundheitsgefährdenden Aktionen selbst dann zu pfeifen, wenn dabei auch der Ball gespielt wurde oder wenn die Situation eigentlich schon zu Ende gespielt war – so wie im Fall des Elfmeterpfiffs für England.
Womöglich wäre es sinnvoll, die Regeln so nachzuschärfen, dass am Ende weniger Elfmeter gepfiffen würden. Den Schiedsrichtern würde man einen großen Gefallen damit tun, denn sie wären seltener dazu gezwungen, ein Spiel durch ihren Pfiff zu entscheiden.
Und die Stammtischrunde? Die diskutiert sowieso.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren