Urteil zu Biller-Roman: Verfremdungsgebot
Persönlichkeitsrecht vor künstlerischer Freiheit: Das Vertriebsverbot für Maxim Billers Roman "Esra" bleibt bestehen.
Das Vertriebsverbot von Maxim Billers Liebesroman "Esra" bleibt bestehen. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat gestern die Verfassungsbeschwerde des Verlags Kiepenheuer & Witsch weitgehend abgelehnt. Die Richter haben in der lange erwarteten Entscheidung nun zwar die Kunstfreiheit der Schriftsteller gestärkt, ihr aber zugleich deutliche Grenzen bei der Darstellung intimer Details von erkennbaren Personen aufgezeigt.
Der Roman schildert die unglückliche Liebesbeziehung des Schriftstellers Adam zu der Deutschtürkin Esra. Die Beziehung wird beeinträchtigt durch Esras eher wankelmütigen Charakter, ihre herrschüchtige Mutter Lale sowie die schwere Krankheit von Esras Tochter.
Billers Exfreundin Ayse R. und ihre Mutter Birsel L. erkannten sich aufgrund zahlreich übereinstimmender Details in den Figuren wieder und erreichten ein Vertriebsverbot für den Roman, das der Bundesgerichtshof 2005 bestätigte.
Begründung: Die Veröffentlichung intimer Details aus dem Leben R.s und ihrer kranken Tochter verletze deren Persönlichkeitsrecht. Die Mutter L. werde in dem Buch als tyrannische, kriminelle Alkoholikerin "negativ entstellt".
Das Verfassungsgericht gab der Klage des Verlags gegen die BGH-Entscheidung nur teilweise statt. So wurde zwar festgestellt, dass die Mutter Birsel L. keine Unterlassungsansprüche habe, das von der Tochter Ayse R. erreichte Vertriebsverbot könne dagegen bestehen bleiben.
Wenn ein Buch "Roman" genannt wird, gilt eine Vermutung dafür, dass Personen und Handlungen erfunden sind, so die Verfassungsrichter. Deshalb habe die Mutter kein Recht, die negative Darstellung einer ihr zumindest teilweise nachempfunden Person zu unterbinden. Dies wäre nur möglich, wenn der Autor bei bestimmten Details dem Leser ausdrücklich nahelegt, dass dies keine Fiktion sei.
Anders argumentiert das Gericht, wenn es um die Darstellung von Sexualität und schweren Krankheiten geht. Hier genüge es, dass Ayse R. als Vorlage für die Protagonistin Esra erkennbar sei. Ob der Sex zwischen ihr und Maxim Biller tatsächlich so stattgefunden hat wie im Buch geschildert, sei rechtlich jedoch irrelevant, Ayse R. hat dafür also nicht die Beweislast. Sie werde bereits davor geschützt, so die Richter, "dass sich Leser die durch den Roman nahe gelegte Frage stellen, ob sich die dort berichteten Geschehnisse auch in der Realität zugetragen haben". Biller hätte die Figur der Esra stärker verfremden müssen, um intime Details schildern zu können.
Die Entscheidung war im Gericht stark umstritten. Drei linksliberale Richter gaben Minderheitsvoten ab. Christine-Hohmann-Dennhard und Reinhard Gaier kritisierten, der Beschluss führe letztlich zu einer "Tabuisierung des Sexuellen" in der Kunst, die sich immer im wahren Leben bediene. Wolfgang Hoffmann-Riem forderte, dass die Kunstfreiheit bei der Darstellung realer Personen nicht schwächer sein dürfe als bei fiktiven Charakteren. Federführend für die Mehrheit war der einst von den Grünen nominierte Richter Brun-Otto Bryde. (Az.: 1 BvR 1783/05)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!