piwik no script img

Urteil wegen SuizidhilfeJenseits der Grenzen des Zulässigen

Weil er einer an Depressionen erkrankten Frau zum Suizid verholfen hat, wird ein Arzt zu mehrjähriger Haft verurteilt. Dieser will in Revision gehen.

Sie nannte ihn „Dr. Tod“: Das Berliner Landgericht hat den Arzt Christoph Turowski wegen Totschlags verurteilt Foto: Jörg Carstensen/dpa

Berlin taz | Es hatte schon etwas Beklemmendes, als Richter Mark Sautter in seiner Urteilsbegründung am Montag vorlas, welche Nachrichten genau zu welchem Zeitpunkt zwischen Isabell R. und ihrem Suizidhelfer ausgetauscht wurden. Das war in jenen Tagen im Juli 2021, ehe sich die 37-Jährige in einem Hotel von dem ehemaligen Hausarzt und Internisten Christoph Turowski eine tödliche Infusion legen ließ, die sie dann durch das Aufdrehen eines Hahns selbst in Gang setzte. Kurz darauf war sie tot.

Turowski, 74, ist am Montag vom Landgericht Berlin wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Isabell R. war aus Sicht der Richter wegen ihrer Depression nicht zur freien Willensbildung in der Lage. Der Mediziner habe mit seiner Suizidhilfe „die Grenzen des Zulässigen überschritten“, erklärte Sautter. Denn eine „Freiverantwortlichkeit“ muss gegeben sein, damit die Suizidhilfe straffrei bleibt. Dies hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil im Jahr 2020 bestimmt.

Isabell R. befand sich kurz vor ihrem Suizid in einer psychiatrischen Klinik. Denn bereits am 24. Juni hatte es einen ersten Suizidversuch gegeben, nachdem sie den Arzt knapp zwei Wochen vorher angeschrieben hatte, ob er ihr nicht helfen könne, ihr Leben zu beenden. Die wiederkehrenden Depressionen machten ihr das Leben zur Qual, erklärte sie. Sie drohte damit, sich zu erhängen, falls ihr der Arzt nicht helfe. Turowski beschaffte ihr Medikamente, die sie am besagten Junitag in ihrer Wohnung erst einnahm, aber dann erbrach. Sie wurde daraufhin gegen ihren Willen in der Hauptstadt in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Wie Sautter vorlas, schrieb sie am 5. Juli aus der Klinik einer Freundin: „Ich habe gerade mit Dr. Tod telefoniert und gesagt, dass ich das (den ersten gescheiterten Suizidversuch, Anm. d. Red.) als Zeichen sehe, dass ich weiterleben soll.“ Turowski, den sie als „Dr. Tod“ bezeichnete, hatte ihr einen weiteren Suizidversuch angeboten, mit einer tödlichen Infusion statt der Einnahme von Tabletten. Am 6. Juli teilte sie dem Arzt per Nachricht mit: „Hallo, ich habe mich gegen die Methode entschieden, ich denke, Gott hat doch noch Pläne“.

Am 10. Juli textete sie aus der Klinik: „Danke, ich werde am Leben bleiben und werde den Termin am Montag absagen.“ Zwischendurch gab es Nachrichten, in denen sie ihren Suizidwunsch bekräftigte und auf einen Termin drängte. Aber am 11. Juli erklärte sie unter anderem: „lassen Sie mich hoffen, dass es bergauf geht und besser geht“.

Am 12. Juli, am Tag ihrer Entlassung aus der Klinik, für den sie schon ein Hotelzimmer gebucht hatte, um dort mithilfe von Turowski einen erneuten Suizidversuch zu unternehmen, schrieb sie um 9.30 Uhr: „Ich denke manchmal, es soll wohl doch weiter gehen, auch wenn es hart wird.“

Binnen 28 Minuten die Meinung geändert

Der Arzt schrieb ihr daraufhin zurück: „Ich verstehe Ihre Not, fahren Sie in die Heimat.“ Er drängte sie nie zu ihrem Suizidvorhaben. Um 9.58 Uhr aber antwortete Isabell R.: „Am liebsten würde ich es heute machen, auch weil der Hund noch anderweitig untergebracht ist.“ Sie ließ sich aus der Klinik entlassen, begab sich zu dem zuvor angemieteten Hotelzimmer im Berliner Stadtteil Lichterfelde und rief den Arzt zu sich, den sie erst seit einem Monat kannte. Er legte ihr die tödliche Infusion.

Die Kommunikation zeige, wie schwankend Frau R. kurz vor ihrem Tode war, erklärte Richter Sautter am Montag. Der Umstand, dass sie in kurzer Zeit diametral entgegengesetzte Äußerungen machte, zeige, wie labil sie emotional war. Der genaue Verlauf der Nachrichten war der Staatsanwaltschaft bekannt, weil bei Turowski im Zuge einer Hausdurchsuchung Mobil­telefon, iPad und Computer beschlagnahmt und ausgewertet worden waren.

Turowski hatte erklärt, dass Isabell R. in 95 Prozent der mehr als 100 Nachrichten, die sie ihm schrieb, ihren Suizidwunsch bekräftigte. Nur in 5 Prozent habe sie erklärt, davon Abstand nehmen zu wollen. Wie Richter Sautter sagte, sei eine solche Quantifizierung ungeeignet. Die Quantifizierung trage dem Umstand nicht Rechnung, dass sich R. „wiederholt umentschieden“ habe, „in kurzen Zeiträumen“. Isabell R. habe am 12. Juli innerhalb von 28 Minuten ihre Meinung geändert. Damit sei deutlich geworden, dass ihr Entschluss nicht – wie von der Rechtsprechung für frei verantwortliches Handeln vorausgesetzt –, von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Festigkeit getragen war, resümierte Sautter. Isabell R. sei im Juli 2021 eine „objektive Abwägung krankheitsbedingt nicht mehr möglich gewesen“.

Das Gericht zog aber die Stellungnahme des Sachverständigen Stefan Hütter nicht in Zweifel, der erklärt hatte, man könne Isabell R. die „freie Willensbildung“ nicht grundsätzlich absprechen. Es habe eine Einschränkung, aber keine Aufhebung des freien Willens gegeben, hatte Hütter eingeräumt. Der Sachverständige hatte zudem betont, dass man nicht von einer psychiatrischen Diagnose oder von Suizidalität allein direkt auf eine Aufhebung des freien Willens schließen könne. Der „freie Wille“ sei ein Konstrukt und „nicht messbar“, sagte Richter Sautter.

Isabell R. hatte sich vor ihrem zweiten Suizidversuch gesorgt, ob sie diesen vielleicht auch überleben könnte, womöglich mit schweren Schäden. Turowski hatte sie beruhigt und ihr versichert, er werde mit der Dosierung „nachhelfen“, wenn auch der zweite Suizidversuch über die Infusion zu scheitern drohte. Eigenhändig nachzuspritzen wäre allerdings Tötung auf Verlangen gewesen, was grundsätzlich strafbar ist. Der Arzt hätte dies wahrscheinlich nicht gemacht, aber er habe Frau R. „wahrheitswidrig“ zugesagt, falls erforderlich, auch über die Grenzen des Erlaubten hinaus nachzuhelfen und sie damit beeinflusst, urteilte das Gericht.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Verteidiger Thomas Baumeyer kündigte an, vor dem Bundesgerichtshof in Revision gehen zu wollen. Turowski selbst hatte nach dem Urteil erklärt, nun werde kein Arzt mehr bei einem psychisch Kranken Suizidhilfe leisten. Diesen bliebe dann nur der „gewaltsame Suizid“ ohne ärztliche Hilfe.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Schwierige Angelegenheit. Depression ist eine teuflische Sache.

    Jedenfalls ist es allerdings kein Zustand, dass Menschen die sich umbringen wollen und scheitern, in die Klapse verfrachtet werden. Wer aus welchen Gründen auch immer unbedingt sterben will, ist nicht automatisch unzurechungsfähig. Was erlaubt sich der Staat an der Stelle?

    Nur wegen dieses Umstandes sitzt alsbald jemand ein, der es wohl nur gut meinte - und er wird nie wieder Patienten behandeln dürfen. Kein Problem, wir haben schließlich Ärzte im Überfluss...

    • @Fabian Wetzel:

      'Nur gut meinen' ist halt oft das Gegenteil von gut machen. Wie soll ein Internist, der seine Patientin erst 4 Wochen kennt, entscheiden können, dass ihr Entschluss zum Suizid dauerhaft und freiverantwortlich gefallen ist? Zumal ihm selbst Hinweise über die fehlende Sicherheit in ihrem Entschluss vorlagen.