Urteil im HIV-Prozess: Nadja Benaissas Entblößung
Die Ex-No-Angels-Sängerin infizierte einen Mann mit dem HI-Virus – und wurde dafür zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Im Verfahren aber wurde auch sie zum Opfer.
Nadja Benaissa wurde schuldig gesprochen. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass sie einen Mann aufgrund ungeschützten Geschlechtsverkehrs mit dem HI-Virus angesteckt hat und einen anderen dieser Gefahr ausgesetzt hat. Das Urteil: zwei Jahre auf Bewährung. Zusätzlich muss sie 300 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten in einer Einrichtung, in der Aidskranke betreut werden. Das Jugendschöffengericht unter Vorsitz von Dennis Wacker folgt damit in allen Punkten dem vom Staatsanwalt Peter Liesenfeld vorgeschlagenen Strafrahmen.
Nadja Benaissa hat ihre Haut unter Make-up versteckt. Umsonst. Bei der einstündigen Urteilsverkündung im Saal 3 des Darmstädter Landgerichts reicht dieser Schutz nicht. Die 28-Jährige, die mit der Castingband No Angels bekannt wurde, beginnt zu weinen und kann nicht mehr aufhören.
In dem vorangegangen Prozess war darüber verhandelt worden, ob der Vorwurf zutrifft, Benaissa habe in mehreren Fällen ungeschützten Sex mit Männern gehabt, ohne ihnen ihre HIV-Infektion mitzuteilen. Bereits am ersten Prozesstag hatte Benaissa dies in ihrer Einlassung zugegeben. Nach dem Gesetz handelt es sich dabei um versuchte gefährliche Körperverletzung. Im Falle des Künstlerbetreuer S., einem der Sexualpartner, der sich durch die Sängerin infizierte, kommt vollendete gefährliche Körperverletzung hinzu, wie der Richter ausführte.
Scheinbar stoisch ertrug Benaissa, dass Kameras auf sie gerichtet sind und ihr Intimleben in klinischer Sprache im Gerichtssaal öffentlich verhandelt wurde. Intimverkehr. Kondom. Geschützt. Ungeschützt. Minutiös werden Daten genannt, wann sie mit wem geschlafen hat. Oft entschied das Gericht, das Publikum auszuschließen.
Benaissa hat Liebhaber, so viel wird in den Zeugenbefragungen deutlich, denen sie ihre Infektion offenbarte, und es gibt andere, denen sie sie verschwieg. Warum sie so vorgeht und was dahinter steckt, ist nicht Gegenstand in den öffentlichen Vernehmungen. Dass Schuld, Scham, Druck durchs Management der No Angels, dass Angst oder das teils muslimisch geprägte Elternhaus Benaissa in Zwangssituationen brachten, dass zudem Alkohol im Spiel war, wird erwähnt. Was es jedoch mit einer Frau macht, die zum Zeitpunkt eines Teils der Delikte noch Teenager war, ist nicht Gegenstand der Betrachtung.
Ausschlaggebend für die Verurteilung ist vor allem das Gutachten des Virologen der Universität München, Josef Eberle, der am vierten Prozesstag darlegt, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, "dass Frau Benaissa die Quelle für die Infektion war".
Benaissa trägt, wie S., einen seltenen Virussubtyp in sich. Die Verwandtschaft der Viren von Benaissa und S. seien so eng, dass der Virologe sie für Proben von ein und derselben Person, entnommen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, gehalten hätte, hätte er sie anonym analysiert. Eine Verwechslung oder Verunreinigung des Untersuchungsmaterials schloss er aus. Ein Zweitgutachten wurde nicht eingeholt.
In ihren Plädoyers betonen die Staatsanwaltschaft, der Nebenklägervertreter des infizierten Künstlerbetreuers und Benaissas Verteidiger unterschiedliche Aspekte, die der Prozess zutage förderte. Staatsanwalt Liesenfeld zeichnet noch einmal Benaissas Tourbobiografie nach. Da ist eine Gymnasiastin aus Langen bei Frankfurt, die mit zwölf anfängt, Alkohol und Drogen zu nehmen, die mit 14 cracksüchtig ist, zwei Jahre auf der Straße lebt, mit 16 schwanger wird, sich fürs Kind entscheidet und alleine einen Entzug macht. In der Schwangerschaft erfährt sie, dass sie HIV positiv ist. Sie fängt sich, macht die Abendrealschule. Wird nach einem Casting innerhalb von wenigen Wochen zu einem Popstar aufgebaut, noch bevor sie die Schule beendet. Zuerst geht es von null auf hundert. Drei Jahre später, als sich die No Angels auflösen, von hundert auf null.
Die Biografie ergänzt Liesenfeld durch die Schilderung von Benaissas Sexualleben. Mit 17 der erste Freund, dem sie nicht erzählt, dass sie positiv ist. Im Jahr 2004, nach dem Ende der No Angels, der nächste. Dazwischen andere, denen sie sich offenbart. Der Staatsanwalt sieht ein bedingt vorsätzliches Vorgehen bei Benaissa, weil sie um die strafrechtliche Bedeutung ihres Tuns wusste. Der Richter folgt dieser Einschätzung in seiner Urteilsbegründung.
Als strafmildernd erkennen Staatsanwalt und Richter an, dass die Angeklagte geständig war, durch den Prozess berufliche Nachteile und durch HIV eine eingeschränkte Lebenserwartung hat.
Der Richter folgt auch den Darstellungen von Hans Dieter Henkel, dem Rechtsbeistand des geschädigten Künstlerbetreuers S., der den Prozess erst ins Rollen gebracht hat. Der wäre zufrieden gewesen, wenn es zu einem Gespräch, einer Entschuldigung, einer Verständigung, Versöhnung gekommen wäre. Über Monate habe er über Dritte versucht, mit Benaissa in Kontakt zu kommen.Vergeblich. Um Geld ginge es seinem Mandanten nicht. Dass er verlangte, dass sie sich outet und der Aidsstiftung 100.000 Euro spendet zu einem Zeitpunkt, als Benaissa pleite war, wird als Beleg angeführt.
Der Künstlerbetreuer, der bei der Aussage während des Prozesses einen aggressiven Eindruck machte und Benaissa nur mit "der da" oder "die junge Dame", die so viel Leid in die Welt gebracht habe, ansprach, wird sowohl von Liesenfeld als auch von Henkel als Mann dargestellt, der seine Verantwortung annimmt.
Dass dies möglicherweise nicht immer so war, dem wurde nicht nachgegangen. Drei Jahre wusste er nichts von seiner Infektion. In dieser Zeit hätte er Frauen infizieren können, meinte er im Prozess. Für seine Verantwortung in Bezug auf Safer Sex lässt das Fragen offen. Selbst der Virologe betont die geteilte Verantwortung bei der Vorstellung seines Gutachtens. Der, der das Virus nicht hat, müsse Verantwortung dafür übernehmen, dass er es nicht bekommt. Der, der es hat, müsse dafür sorgen, dass andere es nicht bekommen. Auch der Richter betont die Verantwortung von S. und dem anderen Betroffenen, gewichtet die Verantwortung der infizierten Benaissa jedoch höher.
Das Prinzip der geteilten Verantwortung werde durch die Entscheidung des Gerichts zulasten der HIV-Positiven verschoben, bemängeln Vertreter der Aidshilfe. Die Organisation hatte im Vorfeld des Urteils einen Freispruch gefordert. HIV-Positive, die den Prozess beobachten, sehen sich jetzt verstärkter Stigmatisierung ausgesetzt. Die Angst vor HIV-Tests sei nun größer. Denn solange man nicht wisse, dass man positiv ist, kann man nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ganz anders die Sichtweise des Richters: Der Prozess sei eine Chance, HIV und Aids wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen.
Der Verteidiger Oliver Wallasch gab seinem Plädoyer ein Motto, nämlich das des "verantwortungsvollen Umgangs aller Beteiligten". Nicht nur Benaissa sollte vorgeworfen werden, dass sie nicht verantwortungsvoll gehandelt habe, auch die Justizbehörde habe versagt. Sie hat Benaissa im Vorfeld des Prozesses nicht nur in U-Haft gesteckt, sondern ihre Infektion im Jahr 2009 auch öffentlich gemacht. "Im letzten Jahr ist Nadja Benaissa Unrecht geschehen", sagt er.
Nicht zuletzt kritisiert er auch die Medien, die schon 2001 streuten, dass Benaissa HIV-positiv sei. Benaissa selbst sagt in ihrem Schlusswort mit fester, eindringlicher Stimme noch einmal, wie sehr es ihr leid tue, was passiert sei.
Der Prozess hätte eine Chance sein können. Die Stigmatisierung HIV-Positiver in der Gesellschaft, die schwierige Identitätsfindung multiethnischer Kinder in der Bundesrepublik, die Vermarktungslogik des Musikbusiness, all das hätte an Benaissas Biografie thematisiert werden können. Öffentliche Aufmerksamkeit war ja da. Am Ende bleibt die Botschaft: HIV-Positive sind schuld. Benaissa ist nicht länger eine von den No Angels. Sie ist nun die HIV-Positive, die einen anderen angesteckt hat. Das ist ihr Brandmal. Eine der wenigen offenen Gesten im Prozess kommt von einem Jungen. "Glauben Sie, dass ich Nadja um ein Autogramm fragen kann?", fragt er. Später dann erzählt er stolz "Sie hat mich angelächelt."
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