Urteil gegen Justizvollzugsbeamten: Ungerechtfertigte Schläge
Ein Beamter einer Hamburger Justizvollzugsanstalt steht wegen Körperverletzung eines Häftlings vor Gericht. Das Urteil: über 11.000 Euro Geldstrafe.
Solch ein Fall ist selten, aber die Pressebank ist leer. Nur die Kollegen von Christoph K. kommen zuverlässig zu den Terminen. „Vielen Dank, dass ihr da wart“, sagt K. zum Abschied nach einem Prozesstag zu ihnen. „Das weiß ich zu schätzen.“
Christoph K., 41, ist ein kräftiger Mann mit Kinnbart, verheiratet, zwei Kinder. Er kommt in weißem Hemd und schwarzen Jeans. Es ist ihm anzumerken, dass es hier um etwas geht. Seit dem Vorfall im Juli 2023 ist er vom Dienst suspendiert, der Ausgang des Prozesses wird eine Rolle spielen im Disziplinarverfahren, das gegen ihn läuft.
Tatsächlich spielt es erst einmal keine große Rolle, dass Jakub W. vom Gericht zunächst nicht ausfindig zu machen ist. Es gibt ein Video der Überwachungskameras in der Haftanstalt, das zeigt, was auf dem Flur passiert ist. Von der Pressebank aus ist es schlecht zu deuten, zwei Figuren, die plötzlich umzufallen scheinen, aber vorne erkennt man mehr. „Er musste sich mit Nachdruck wehren“, sagt der Anwalt des Angeklagten. „Wir reden nicht über das Zubodenbringen“, sagt der Richter. „Ich sehe aber Schlagbewegungen, die erschließen sich mir nicht.“ Der Anwalt von Christoph K. versucht, sie plausibel zu machen: „Wenn Sie es vergleichen mit dem Widerstand gegen Polizeibeamte, der ist zu brechen.“
Die Hamburger U-Haftanstalt am Holstenglacis genießt keinen guten Ruf. Anwält*innen und Mitarbeitende anderer Einrichtungen berichten, der Ton gegenüber den Inhaftierten sei unhöflich bis aggressiv und Häftlinge fühlten sich gegängelt.
Erst vergangene Woche wurde der Fall von Karvan P. vor Gericht entschieden. P. geriet im April 2023 mit einem Beamten aneinander und wurde von ihm geschlagen. Angeklagt wurde P. wegen tätlichen Angriffs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Er wurde freigesprochen. Gegen den Beamten wurde bislang kein Verfahren eingeleitet.
Im April 2024 meldete sich der U-Haft-Insasse Leon P. bei der taz und berichtete von gewalttätigen Vorfällen und rassistischen Beleidigungen durch Justizbeamte gegen ihn und gegen seinen Zellennachbarn. Er schickte eine Beschwerde an die Anstaltsleitung. „Mit mir waren sie scheiße umgegangen, aber mit den Ausländern noch fieser“, schreibt P. der taz. In einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion zu Beschwerden über Diskriminierung und Hasskriminalität durch Mitarbeitende des Justizvollzugs fand dieser Fall keine Erwähnung.
Laut Erklärung des Angeklagten ist die Vorgeschichte folgende: Der Untersuchungshäftling W. schrie laut aus dem Fenster und hörte auch nach zwei Ermahnungen nicht damit auf. Bei der dritten Aufforderung habe er den Hitlergruß gezeigt und mit einem Tetrapack nach ihm geworfen. Schließlich sei W. ihm auf den Flur gefolgt. „Touch me again and you will see“, habe er dort gesagt, woraufhin K. von einem „unmittelbar bevorstehenden Angriff“ ausgegangen sei. Dann habe der Angeklagte den Häftling, so liest es der Anwalt in Justizvollzugssprache vor, mit einem „Nasendruck kontrolliert zu Boden gebracht“.
Zur Vorgeschichte können die Zeugen, die das Gericht danach anhört, nichts sagen. Es sind K.’s Kollegen, die „hinzugeeilt sind“, so sagen sie merkwürdig altertümlich, als K. den Alarmknopf drückte. Sie können sich an keine Schläge von K. erinnern, nur an die heftige Gegenwehr von Jakub W., aufgrund derer zwei Beamte damit beschäftigt waren, seine Beine zu fixieren.
„Warum kommen da so viele Beamte?“, fragt die Staatsanwältin. „Das ist so üblich, damit möglichst wenige von uns zu Schaden kommen“, sagt der Justizvollzugsbeamte T.. Später, auf dem Flur, wird der Vorgesetzte des Angeklagten sagen: „Das ist doch eine Geisellage, darum kommen so viele“, und es klingt so, als glaube er nicht, dass sich die Staatsanwältin vorstellen kann, wie eine JVA funktioniert.
Und auch wenn an diesem Tag der wichtigste Zeuge, Jakub W., immer noch nicht aufzufinden ist, gibt es Interessantes zu erfahren, vor allem in den Nebensätzen. Der Rechtsanwalt fragt den Zeugen T., was der Angeklagte für ein Mensch sei. „Ein sehr straighter Kollege“, sagt T., „wir sind ein bisschen strenger.“ Persönlich sei K. ein „humorvoller Typ“, die Gefangenen seien auch auf ihn zugekommen.
Und dann wieder einer der Nebensätze: W. sei zunächst „ruhig und höflich“ gewesen, aber nach ein bis zwei Wochen habe er sich verändert, ab dann sei er „fordernd und aggressiv“ gewesen. Warum? Das wisse er nicht, vielleicht ein Gesprächstermin oder ein Besuch. Nachgefragt hat anscheinend niemand, auch das Gericht fragt nicht. Aber dessen Auftrag ist es, die Körperverletzung aufzuklären, als den Eisberg sozusagen und nicht die Kältegrade ringsherum.
Und noch so eine Fußnote, als das Gericht weiter nachfragt, ob T. wirklich keine Schlagbewegungen gesehen habe, als er „hinzueilte“. „Die Anstaltsleitung war auch der Meinung, dass ich mehr gesehen haben muss“, sagt T.. „Mir vorzuwerfen, ich hätte mehr gesehen, ist fast beleidigend.“ Aber auch wenn keiner der Zeugen etwas von Schlägen gesehen haben will – die Akten des Krankenhauses, in das W. auf seinen Wunsch hin gebracht wurde, sprechen für sich: festgestellt sind Prellungen an Kopf und Oberkörper, ein Wirbelsäulen- und Beckentrauma.
Knapp zwei Monate nach Beginn des Prozesses erscheint Jakub W., 41, Geschädigter und Zeuge, tatsächlich vor Gericht. Er kommt aus der Untersuchungshaft in Chemnitz, davor war er in Polen in Haft. Er ist gelernter Verputzter, Trockenbau, kurz geschorenes rot-blondes Haar. Die Fragen des Gerichts beantwortet er gern. „Ich kann mich wunderbar erinnern“, sagt er, „ich wurde brutal geschlagen, ich habe nichts getan, ich habe die Unversehrtheit des Körpers des Beamten nicht verletzt.“
Was er sagt, gewinnt in der Übersetzung durch die Dolmetscherin eine gewisse Förmlichkeit, die es in Wirklichkeit vermutlich nicht hat. Er habe einem polnischen Zellennachbarn die Bitte zugerufen, seiner Familie zu sagen, wo er sei, und nicht gewusst, dass solche Rufe verboten seien.
Ab dann weicht das, was W. erzählt, weit ab von dem, was der Angeklagte vorgebracht hat. Er habe kein Tetrapack geworfen; dass sein Gruß der verbotene Hitlergruß gewesen sei, habe er nicht gewusst. Gegenüber der Polizei hat W. gesagt, dass K. ihn als Polen rassistisch behandelt habe, nun will er K. am Tattag zum ersten Mal gesehen haben. Aber: Wie provozierend W. auch gewesen sein mag – und nach allem Anschein ist er nicht der „Mustergefangene“, als den er sich unaufgefordert beschreibt – für den Tatvorwurf spielt das keine große Rolle.
Plötzlich geht es schnell
Und an dem hält die Staatsanwältin unverändert fest. Nachdem W. den Saal verlässt, geht das Verfahren, das Wochen gedauert hat, in nicht mal einer Stunde zu Ende. Die Staatsanwältin fordert eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten. Sie sieht es als erwiesen an, dass K. nicht aus Notwehr handelte. Selbst wenn man den Nasengriff hinnehme, blieben vier Schläge, die sich nicht rechtfertigen ließen.
K.s Anwalt dagegen kann keine Schläge seines Mandanten auf dem Video erkennen. „Muss der Beamte sich denn erst schlagen lassen?“, fragt er rhetorisch – und beantragt Freispruch. Christoph K. steht ein letztes Wort zu. „Er hat versucht, mich zu dominieren“, sagt er über W.. „Er war nicht durchsucht; ich bin ein paar Mal angegriffen worden.“
Das Gericht verurteilt Christoph K. zu 150 Tagessätzen à 75 Euro. Er könne sich vorstellen, dass es eine schwierige Situation für K. gewesen sei, sagt der Richter. Natürlich seien Leute, die strafverdächtig seien, nicht völlig ungefährlich – W. sei jedoch nur verbal aggressiv gewesen. Und selbst wenn K. die Lage als gefährlich eingeschätzt habe – „ich sehe für diese Schläge keine Rechtfertigung“.
K. atmet tief aus, als er das Urteil hört und man weiß nicht, ob es Erleichterung oder Enttäuschung ist. Später, im Flur, fragt er seinen Anwalt: „Ist das das Mittelmaß?“
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