Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Keine Abschiebung ins Unheil
Der Europäische Gerichtshof verbietet Abschiebungen, wenn unmenschliche Behandlung droht. Damit müssen Flüchtlinge nicht mehr zurück nach Griechenland.
FREIBURG taz | Flüchtlinge, die über Griechenland nach Europa eingereist sind, müssen nicht mehr mit einer Abschiebung ins dortige Asyl-Chaos rechnen. Das ist die Folge einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Mittwoch. Pro Asyl sprach von einer "schallenden Ohrfeige" für die europäische Asylpolitik.
Ausgelöst wurde die Luxemburger Entscheidung durch sechs Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran und Algerien. Sie waren über Griechenland in die EU gekommen, hatten aber erst in England und Irland Asyl beantragt. Nach den EU-Asylregeln (Dublin-II-Verordnung) ist allerdings für die Durchführung des Asylverfahrens das Land zuständig, in das der Flüchtling zuerst eingereist war.
Die griechischen Behörden sind derzeit jedoch nicht in der Lage, Asylanträge vernünftig zu prüfen. Es gibt auch viel zu wenig Unterkünfte für Flüchtlinge. Viele müssen in Parks campieren. Andere sind in Sammellagern mit völlig unzureichender sanitärer Ausstattung und vielfacher Überbelegung untergebracht.
Der EuGH hielt Griechenland immerhin zugute, dass im Jahr 2010 rund 90 Prozent der "illegalen Einwanderer" über Griechenland die EU betraten, es sei den griechischen Behörden daher "tatsächlich unmöglich, diesen Zustrom zu bewältigen".
Staaten müssen Asylverfahren durchführen
Andererseits sei die Abschiebung in ein Land, in dem "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" droht, in der EU-Grundrechte-Charta verboten, erklärte der EuGH. Zwar gälte in der Dublin-II-Verordnung eine Vermutung, dass EU-Staaten die Grundrechte achten, doch sei die Vermutung widerlegbar - insbesondere wenn internationale Berichte, zum Beispiel des UN-Flüchtlingskommissars, wie im Fall Griechenlands eindeutig dagegen sprechen.
Der EuGH erklärte die Situation in Griechenland nun zwar nicht direkt für unmenschlich, verwies aber auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, der im Januar festgestellt hatte, dass die Zustände zum Teil tatsächlich unmenschlich seien und einem Flüchtling deshalb Schadenersatz zugesprochen hatte.
Nach dem Straßburger Urteil vom Januar hatten wohl alle EU-Staaten Abschiebungen nach Griechenland ausgesetzt. Der EuGH erklärte das nun nachträglich zur EU-rechtlichen Pflicht. Im Zweifel muss nun der Staat, in dem sich der Flüchtling aktuell aufhält, das Asylverfahren durchführen.
In Deutschland hat Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Abschiebungen nach Griechenland am 28. November für ein weiteres Jahr ausgesetzt. Die Bundesregierung wehrt sich allerdings nach wie vor gegen eine generelle Änderung des Dublin-Systems, die Griechenland entlasten würde. Denn für Deutschland, als Staat in der Mitte Europas, ist es günstig, wenn jeweils der Staat des ersten Kontakts für die Prüfung der Asylanträge und die Unterbringung der Flüchtlinge zuständig ist.
Folgen für Deutschland hat die Feststellung des EuGH, es gebe "keine unwiderlegbare Vermutung", dass die EU-Staaten die Grundrechte von Flüchtlingen beachten. Pro Asyl schließt daraus, dass Deutschland nun sein Asylverfahrensgesetz ändern muss. Derzeit haben Flüchtlinge in Deutschland nämlich laut Gesetz keinerlei Möglichkeit, ihre Überstellung in einen anderen EU-Staat vorab gerichtlich überprüfen zu lassen. Az.: C-411/10
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