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Urteil Ein Zahnarzt in Berlin missbraucht eine Patientin während der Narkose. Die Polizei glaubt dem Opfer – ermutigt zur Anzeige. Jetzt wurde der Zahnarzt verurteiltDer Täter will Opfer sein

aus Berlin Viktoria Morasch

Das Amtsgericht in Berlin Moabit hat die Note 2,0 – so das Urteil von 26 Rezensenten auf Google. Einer beschwert sich über die Parksituation, ein anderer lobt die Architektur, ein Dritter meint, die Justizbeamten seien „frustrierte Krawalltypen“. Und natürlich finden einige, sie wurden zu Unrecht verurteilt: „die „machen mit den normalen bürger was se wollen !!!!“, „Gerechtigkeit hahahahahaha.“

Im ersten Stock des Amtsgerichts tritt Doktor Sven S. an eine Glasscheibe und sagt dem Beamten, auf dessen Rücken „JUSTIZ“ steht: „Guten Morgen, ich habe eine Ladung.“ Draußen scheint die Sonne, drin liegt türkisfarbener Teppich mit Kaffeeflecken. Sven S., Kieferchirurg und Zahnarzt, dunkle Haare, randlose Brille, glattrasiert, hat die Note 1,2 auf jameda.de, einem Bewertungsportal für Ärzte. Er setzt sich in den Wartebereich für Raum 1104 und starrt auf den Boden.

Sexualisierte Gewalt

Im zweiten Stock sitzt eine junge Frau, 25, Laura T. soll sie heißen, mit ihrer Anwältin und ihrem Freund. Sie hat Sven S. über jameda.de gefunden, damals hatte er eine 1,0. Nachdem er ihr im Mai 2016 die Weisheitszähne gezogen hatte, schrieb auch sie eine Bewertung: 6,0.

An diesem Dienstagmorgen im Juli wird am Amtsgericht in Moabit entschieden: Hat er, Doktor Sven S., Laura T. sexuell missbraucht, während sie betäubt war? Sven S. wirbt auf seiner Website mit der Dämmerschlafmethode, auch „kleine Narkose“ genannt. Die Patientin spürt nichts, atmet selbst und kann begrenzt reagieren.

Im Verhandlungsraum 1104 ziehen die Anwältinnen, der Staatsanwalt und der Richter die Kutten über. Aus der Anklageschrift: „Am Tattag gegen 16:20 Uhr und 16:45 Uhr fasste der Angeschuldigte, der als Zahnarzt zuvor bei der Zeugin unter Vollnarkose eine Weisheitszahnoperation durchgeführt hatte, in der Aufwachphase zunächst von oben unter ihr Oberteil und unter ihren BH an die Brüste und knetete dabei auch mit seinem mit Speichel befeuchteten Zeige- und Mittelfinger die Brustwarzen der Geschädigten. Anschließend küsste er entgegen dem Willen der Geschädigten und in der Annahme, dass diese die Berührung nicht merken würde, ihren Busen, bevor er den Knopf an der Hose der Zeugin öffnete und seine Hand in Richtung des Geschlechtsteils der Zeugin schob.“

Laura T. konnte sich nicht wehren. Als die Arzthelferin kommt, so steht es auch in der Anklageschrift, rollt Sven S. nervös mit seinem Stuhl auf sie zu, er trägt keine Handschuhe mehr. Dann verlegen sie Laura T. in den Aufwachraum. Sie sei müde gewesen, sagt die Arzthelferin aus, gab Geräusche von sich. Als Laura T. aufwacht, ist ihr Freund da. Noch benebelt, fängt sie an zu weinen, sagt immer wieder: „Er hat mich angefasst.“ Ihr Freund fragt nach, ist sich unsicher und auch sie ist sich unsicher – doch nur eingebildet? Er ruft die Polizei, erzählt vom Missbrauch und vom Zweifel. Der Polizeibeamte sagt: „Ich würde das prüfen lassen. Wenn sie so was sagt, würde ich ihr Glauben schenken.“ Die Spuren werden gesichert, die Polizei fährt Laura T. nach Hause, dort muss sie ihre Unterwäsche abgeben. Abends googeln sie und ihr Freund: Dämmerschlaf, Halluzinationen, das komme schon vor, finden sie heraus.

Die nächsten sechs Monate fragt Laura T. sich immer wieder: Bin ich verrückt? Beschuldige ich jemanden falsch? Mache ich mich strafbar? „Ich habe die ganze Zeit mich in Zweifel gezogen und nicht ihn“, sagt sie zwei Tage nach der Verhandlung, im Gras eines Parks in Berlin-Mitte sitzend. Vor Gericht hat sie auch gesagt: „Ich habe diese Bilder immer im Kopf. Wie ich wehrlos auf der Liege bin und es über mich ergehen lassen muss.“ Manchmal habe sie gehofft, dass alles nur eingebildet war. Sie erinnert sich auch an Worte: „Er hat gesagt, dass ich einen schönen Körper habe. Dass ich mich entspannen soll, das ist eine Massage.“

Kurz vor Weihnachten, eine Mail ihrer Anwältin: Es wurden DNA Spuren an ihrem BH und der Innenseite ihrer Unterhose gefunden.

Im Januar das Angebot zum Täter-Opfer-Ausgleich: 5.000 Euro und ein Gespräch, wenn Laura T. wolle, auch ein Mediator könne dabei sein.

Im Februar ein Brief von Sven S.: Er könne nicht verstehen, was passiert sei. Er könne nicht mehr in den Spiegel schauen und hoffe für sie, dass sie irgendwann wieder Vertrauen in ärztliche Behandlungen haben werde, so gibt es Laura T. wieder. „Er hat eigentlich nur über sich selbst geschrieben.“

Seit August 2016 macht Sven S. eine Therapie. Laura T. würde auch gern eine machen, ihre Versicherung will die Kosten aber nicht übernehmen.

In Saal 1104 liest der Richter aus dem Schreiben des Psychotherapeuten von Sven S. vor: „Herr S. hat einen hohen emotionalen Leidensdruck und befindet sich in einer schwierigen persönlichen Situation. Es wurde eine mittelgradige depressive Episode und eine Anpassungsstörung festgestellt. Er leidet unter der Klärung einer Trennungsproblematik und es fällt ihm manchmal schwer, seine Impulskontrolle situationsadäquat zu regulieren. Es besteht ein glaubhafter Wille, seine Handlungsstrategien zu überdenken.“

Laura T.s Anwältin hakt bei der Impulskontrolle nach. „Was heißt das?“ „Dass ich in Stresssituationen überreagiere“, sagt Sven S. „Wie äußert sich das?“ „Gegenüber dem Personal.“

Auf kununu.com hat Sven S. eine 2,3. Fünf von sieben Rezensenten finden ihn als Arbeitgeber nur „genügend“, das ist die schlechteste Note: „Man kann dieses Arbeitsverhältnis nicht in Worte fassen. Schrecklich.“ „Beleidigungen sind an der Tagesordnung.“ „Dort werden die Mitarbeiter nur angeschrien.“

Sven S. gesteht: „Es ist so passiert, wie die Patientin es geschildert hat. Ich kann mir nicht erklären, was in mich gefahren ist. Ich möchte der Frau T. sagen, dass es mir unendlich leid tut. Ich kann es mir selbst nicht erklären.“

Laura T. sagt: „Es fällt mir schwer, die Worte anzunehmen.“ Sie ist wütend. Vor allem, als um das Schmerzensgeld gefeilscht wird. Die beiden Anwältinnen haben sich auf 8.000 Euro geeinigt, jetzt vor Gericht erfährt Laura T.s Anwältin, dass auch schon 10.000 Euro im Raum standen. „Man kommt sich so verarscht vor. Dieses Taktieren, wie soll ich seine Entschuldigung da ernst nehmen?“, sagt sie im Park. Vor Gericht sagt sie: „Das Geld ist nur wegen der Therapie wichtig, eine Wiedergutmachung ist es nicht.“

Dann spricht der Richter von einem anderen Strafverfahren, einem Strafbefehl, der gegen Sven S. ergangen sei, einer Verurteilung zu 120 Tagessätzen, also 18.000 Euro. Der Richter liest: „Zwischen 14 Uhr und 14 Uhr 30 schlug der Angeklagte seine frühere Lebensgefährtin, die im 4. Monat schwanger war und im Bett lag, mit der Faust auf das Ohr und ins Gesicht. Selbst als sie zu Boden ging, schlug er weiter auf sie ein, als sie flüchten wollte, hat er sie noch ins Gesäß getreten. Die Geschädigte erlitt eine Nasenbeinfraktur und eine Trommelfellperforation.“ Die Anwältin und Sven S. einigen sich auf eine Gesamtstrafenbildung, „Mengenrabatt“, nennt es die Anwältin von Laura T.

Für Sven S. spricht: dass er nicht vorbestraft ist, die 8.000 Euro, die Therapie, das Geständnis. Gegen ihn spricht die Tat.

Der Staatsanwalt fordert ein Jahr und sechs Monate auf Bewährung, und dazu zwei Monate für den körperlichen Missbrauch an seiner Exfreundin.

Laura T.s Anwältin schließt sich an, sie sagt: „Meine Mandantin hat gehofft, dass die Hauptverhandlung Aufklärung bringt, deswegen ist sie hier. Aber die Unsicherheiten haben sich heute nicht aufklären lassen. Für uns war es wichtig, dass Reue besteht. Es ist Reue zu spüren, die aber eher von Selbstmitleid getragen ist als von Mitleid mit der Mandantin.“

Sven S. Anwältin plädiert für „nicht über neun Monate“, sie sagt: „Das mit der Zahlung ist blöd gelaufen, das sollte kein Gefeilsche sein. Herr Doktor S. empfindet Ohnmacht, er kann das selber nicht verstehen. Es ist ein Wendepunkt in seinem Leben. Natürlich schämt er sich wahnsinnig.“

Sven S. hat das letzte Wort; er entschuldigt sich abermals, „dabei schaute er zum Richter, nicht zu mir“, sagt Laura T. später. S. weint, die Hände vorm Gesicht.

Der Richter urteilt: ein Jahr auf Bewährung, 9 Monate für Laura T. und drei für die Exfreundin, die 18.000 Euro an sie entfallen. Er sagt: „Auch wenn das Geständnis taktisch war und erst nach der DNA-Feststellung kam, hat es seinen Wert. Was die 8.000 Euro angeht, ist es nachvollziehbar, dass Sie sich über den Tisch gezogen fühlen, aber das ist nicht ganz richtig: Herrn S. steht das Wasser bis zum Hals, da geht eine Existenz den Bach runter.“

Selbstmitleid beim Täter

Richter, Staatsanwalt und Anwältinnen gehen zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass die Zahnärztekammer S. die Approbation entzieht. Die Annahme mildert das Urteil, der Staatsanwalt fordert kein Berufsverbot. S. hat vor fünf Jahren seine Praxis gegründet, ist hoch verschuldet. Einige Tage nach der Verhandlung ruft Laura T. bei der Zahnärztekammer an. Man sei nicht zuständig, sagt man ihr. Eine Approbation entziehen kann nur das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Wahrscheinlich tut es das, aber sicher ist es nicht.

Demnächst werden zwei Bewertungen im Führungszeugnis von Sven S. auftauchen: sexueller Übergriff unter Ausnutzung des Behandlungsverhältnisses sowie Körperverletzung.

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