■ Urteil: Die Rechtschreibreform steht wieder zur Disposition: Mittelalterlicher Habitus
Wie hat man sie belächelt, jene Schriftsteller, die im vergangenen Jahr auf der Frankfurter Buchmesse gegen die Rechtschreibreform wetterten. Zu spät seien sie gekommen, hätten die Debatte schlichtweg verschlafen, höhnten Teilnehmer der Kultusministerkonferenz. Die Arroganz, die da mancher zur Schau stellte, hatte vordemokratischen Charakter und glich dem Habitus mittelalterlicher Fürstenhäuser.
Seit gestern aber muß sich jenes Gremium von einem hessischen Verwaltungsgericht bescheinigen lassen, daß es verfassungsrechtlich gar nicht kompetent gewesen ist, die Grundregeln der deutschen Sprache zu ändern. Ein Gesetz, so die Richter, müsse auf jeden Fall erlassen werden, weil die Reform eine „wesentliche Änderung von Bildungszielen“ darstelle. Nun darf man gespannt sein, wie es weitergeht. Förmlich vollzogen werden soll die Rechtschreibreform zum 1.August 1998, obwohl manche Bundesländer voreilig schon seit dem Schuljahresbeginn 1996 die Kinder an das neue Regelwerk heranführen. Hunderttausende Schulbücher sind schon gedruckt worden, Millionenwerte drohen bald wieder eingestampft zu werden, sollte sich das hessische Urteil andernorts durchsetzen. Ende der Woche wird eine ähnliche Klage eines Vaters vor dem Verwaltungsgericht in Thüringen entschieden. Weitere Verfahren sind anhängig.
Aufregend wird es erst, wenn nach der Sommerpause die Bonner Parlamentarier wieder zusammenkommen. Auch sie haben das Thema erst entdeckt, als es im vergangenen Sommer in den Medien hochgekocht wurde. Die FDP, die verzweifelt versucht, sich neben der Fixierung als Steuerpartei noch auf einem anderen Felde zu profilieren, hat das Thema auf jeden Fall schon einmal für sich beansprucht. Ihr Bundesvorsitzender Gerhardt, wohl den Blick fest auf die Philologenschar und freischaffende Schriftsteller gerichtet, hat schon das sprachliche Chaos zwischen Rhein und Oder beschworen, sollten nun überall die Gerichte das Regelwerk außer Kraft setzen.
Der Jahrhundertreform könnte es also am Ende ergehen wie der Steuerreform der Koalition: Sie löst sich in nichts auf. Vielleicht eignet sie sich eines Tages nur noch für ein universitäres Germanistikseminar. Bücher als wissenschaftliches Grundlagenmaterial wären ja reichlich vorhanden. Und ein pensionierter Kultusminister könnte erzählen, wie ein Regelwerk im Hinterzimmer ausgebrütet wurde und dort am Ende auch liegenblieb. Severin Weiland
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