Uraufführung in Osnabrück: Das schräge Dorf
Mit der Tragikomödie „Nähe“ gewann der Autor Mario Wurmitzer den Osnabrücker Dramatikerpreis. Nun kam das Stück in einer bewegenden Inszenierung auf die Bühne.
„Nähe“, die Tragikomödie, mit der der junge österreichische Autor Mario Wurmitzer 2017 den „Osnabrücker Dramatikerpreis“ gewann, beginnt bizarr, skurril, absurd, symbolistisch. Der Pilot putzt sich im Gehen die Zähne. Der Wanderer ist plötzlich halbnackt. Die Skaterin humpelt auf Krücken herein. Der Graubart schiebt einen winzigen Kinderwagen, schlägt einen Nagel in die Wand.
Aber nicht lange, und es wird klar, was hier geschieht. Lisa, die Tochter, kehrt heim ins Dorf ihrer Kindheit, denn Heinz, ihr Vater, hat einen Schlaganfall. Heinz lebt in der Vergangenheit, in der Erinnerung an seine Revolten als Künstler, an seine verstorbene Frau. Lisa hat gerade eine Trennung hinter sich, sehnt sich nach einem Sinn für ihr Dasein.
Viel zu sagen haben sie einander nicht. Beide stehen an einem Wendepunkt, bewegungslos. Was sie denken und empfinden, ist wie eingefroren. Selbst die Besucher aus Lisas früherem Leben brechen diese Starre nicht auf. Da ist die „Freundin, die schon tot ist“, die vom Jenseits erzählt, während sie Lisa auf Inlinern umkurvt. Da ist Lisas Ex-Freund, der Pilot, der nicht wahrhaben will, dass es aus ist. Und da ist der Wanderer, Lisas egomanischer Therapeut, der, als sein magerer Floskel-Vorrat an Psycho-Sprech nicht mehr verfängt, wieder in die Berge verschwindet.
Ein seltsames Panoptikum tut sich auf: Da ist der Bürgermeister des Dorfs, der es nicht erträgt, dass er seine Bürger an die Stadt verliert. Da ist der „Mann, der sich zweimal in denselben Abgrund stürzte“, ein wahnverwirrt „Heimat!“ und „Freiheit!“ knorzender Stahlhelmträger in Unterhosen, der verzweifelt, weil er keine Feinde findet. Da ist ein Musikverein in Lederhosen, Gamsbarthüten und Trachtenjankern, der Geld für ein Brauchtum sammelt, das niemanden mehr interessiert.
Wer sich „Nähe“ ansieht, sollte etwas Lust auf Dechiffrierung mitbringen. Warum beispielsweise die tote Inlinerin mit einem herzchenrot glitzernden Jo-Jo spielt? Warum Lisa, der sie das Jo-Jo am Ende schenkt, zu wummerndem Techno Springseil springt? So ist das Leben, signalisiert uns das: immer rauf und runter, immer im Kreis. Heinz serviert eine Plastikkarotte, von der niemand satt wird? Herbstblätter stieben – und werden gleich darauf wieder zusammengefegt? Der Pilot, der zwischendrin die Handlung durch Songs kommentiert, trägt plötzlich ein Diva-Schillerkleid mit Pelzbesatz? Die Bühne ist nackt und schwarz, und wer einen Tisch braucht, einen Kopfhörer, eine Tasse, bringt sie selber mit? Sinnbilder, Chiffren.
Auch die Sprache nimmt sich da nicht aus. Je länger Lisa bei Heinz bleibt, desto fragmentierter wird sie. „Es ist ja nichts mehr wie …“ Pause, Stockung, Unausgesprochenheit. Kommunikation, die ans Verstummen grenzt.
Bewegende Monologe
Das hat Biss, und das hat Sensibilität. Das hat Brüche zwischen Ernst und Komödiantik. Schnoddrigkeiten, bei denen Lachen aufbrandet, stehen neben Härten wie „Manchmal erliegt man!“. Ohnmacht allerorten. Der tiefste aller Schrecken: Sich selbst ausgeliefert zu sein.
Besonders bewegend sind die Monologe. Der von Heinz etwa, der sich fragt, wie er sie überwinden kann, die „Schlucht zu den anderen“. Ronald Funke ist als Heinz beklemmend stark. Ebenso stark wie Denise Matthey als Lisa. Ebenso stark wie Dietmar Pröll als Therapeut und Krieger. Wie Hannah Walther als Tote. Alle sind hier stark. Spielfreudig und konzentriert, leidenschaftlich und präzise. Sparsame, klar gesetzte Mimik und Gestik. Jeder Gedanke wirkt, als stamme er nicht nur aus dem Textbuch.
Eine Regieleistung, durch die sich Ron Zimmering für weitere Inszenierungen empfiehlt. Mit Kostümbildner Benjamin Burgunder und Bühnenbildnerin Ute Radler bildet er in „Nähe“ ein ebenso inspiriertes Team wie in „Bandscheibenvorfall“ – in der vergangenen Spielzeit eine der besten Inszenierungen. Dort wie hier: bildhafte Seelenzustände.
Di/Mi, 18./19. Dezember, 19.30 Uhr, Osnabrück, Emma-Theater. Weitere Termine: 8./17./18./24. Januar 2019
Mario Wurmitzer, der mit „Nähe“ erstmals an einem Stadttheater aufgeführt wird, hat mit Zimmering großes Glück. Den Dramatikerpreis sieht er übrigens nicht nur als Sprungbrett für die Preisträger, sondern auch für das Theater selbst: „Gegenwartsdramatik zu fördern, steht sehr gut zu Gesicht.“
Ein Stück über die Unmöglichkeit von Nähe? Nur fast. Denn da ist der Schluss: Der Vater, zittrig, kraftlos, rollt auf dem Boden eine riesige Leinwand aus. Bedächtig, still, liebevoll, stellt er Farbe und Pinsel bereit, fast wie in einem Ritual. Dann hockt er sich hin. Tupft, zögernd, einen einzelnen, rotbraunen Punkt, kaum sichtbar. Dann noch einen. Und noch einen. Aber das Sich-Fortmalen aus dem Leben tritt nicht ein. Er quält sich. Aber sein schwarzes Gefängnis gibt ihn nicht frei.
Lisa sieht sein Scheitern. Kauert sich neben ihn. Nähe, endlich. Eine Weile malen sie gemeinsam. Dann steht der Vater auf. Strafft sich. Öffnet Farbflaschen. Versprüht, vergießt, in weiten, entschlossenen Gesten: Pink, Gelb, Blau. Malt sich frei. Und seine enge Welt öffnet sich, die schwarzen Mauern brechen auf, es wird hell um ihn. „Jetzt bin ich bereit!“ In diesem Augenblick, dem der ersten Nähe zu Lisa, bricht er auf in die letzte Ferne. Lisa steht, schmerzzerwühlt. Blickt auf das letzte Bild ihres Vaters. Dann gehen die Scheinwerfer aus.
Der ergreifendste, der traurigste und zugleich schönste Schluss, der seit vielen Jahren auf dieser Bühne zu sehen war.
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