Uraufführung im Kleinen Haus: In den Trümmern des Lebens
Oskar Roehlers Vita spiegelt Höhen und Tiefschläge der Nachkriegs-BRD zwischen Wirtschaftswunder und RAF.
Es ist dann doch ein toller Schauspielabend gewesen. Das muss vorab gesagt werden, weil es auch einiges zu nörgeln gibt an der Uraufführung der Bühnenversion von Oskar Roehlers „Herkunft“. Den autobiografischen Roman – oder wär’s eher eine romanhafte Autobiografie? – hat Roehler 2011 veröffentlicht und später selbst mit extremer Überlänge verfilmt. Das Theater überbietet die um eine halbe Stunde. Leider.
Denn 3,5 Stunden – so lange bannt das Leben Roehlers nicht, auch wenn sein Papa Kassenwart der RAF, Gruppe-47-Schriftführer und Gründungslektor bei Luchterhand war und die Mama Gisela Elsner die Tochter eines Siemens-Managers und scharfzüngigste Frau und geilstes Weib der Nachkriegsliteratur: Fast 600 Seiten hat das Buch. Komprimieren, weglassen, das wäre wichtig gewesen. Zumal sich Regisseur Frank Abt und Dramaturgin Viktorie Knotová weniger für das zeitdramatische Fresko interessieren, als fürs Kammerspiel-Potenzial der Vorlage. Sinnvoll. Bloß: Dass es ein Kind nicht richtig gut hat, wenn es zwischen zwei sauf- und fickfreudigen Halb-Genies aufwächst, deren Ehe mit seiner Geburt ins Stadium eines Stellungskrieges übergeht, ist rasch kapiert. Es gewinnt nicht an Spannung dadurch, dass es Regisseur und Dramaturgin einfällt, im zweiten Teil die Chronologie der zu zahlreichen Szenen durcheinanderzuwirbeln. Und wie ein ranschmeißerischer Trick zum Herzwärmen wirkt’s in Teil eins, kleine Kinder auf die Bühne zu stellen, um verzichtbare Rollen auszufüllen. Vor allem weil ja die wichtigen Kinderrollen im Teil zwei erwachsene SchauspielerInnen übernehmen – und Nadine Geyersbach ist, wenn sie den Rockbund übern Bauchnabel refft, eine viel sechsjährigere Sechsjährige, als jede Sechsjährige je sein kann.
Womit bereits die Liste der Gründe eröffnet wäre, weshalb es doch ein grandioser Theaterabend wird. Denn einerseits switchen die SchauspielerInnen mit Lust durch ihre Rollen und wühlen sich doch zugleich tief in sie hinein: Sie kosten ihre Höhen und mehr noch die Tiefschläge aus, die eben jene der politisch-intellektuellen Nachkriegszeit sind, vom Wiederaufbau-Wirtschaftswunder bis zur RAF, vom Vollspießertum über die cordbehoste Intellektualität bis zum Revoluzzerwahn. Andererseits haben Abt und Knotková eines fast genialisch gelöst: Anders als mindestens seit Goethe in der Dramatisierer-Branche üblich, haben sie mit klugem Griff das Romanhafte dieser Autobioprosa, die Reflexion, nicht gelöscht, sondern auf die Bühne geholt: Das Erinnern, das Wiederholen, das Durcharbeiten – verkörpert Matthieu Svetchine.
Reflexion, das heißt … – also: Ein Roman, behauptet Stendhal, sei ein Spiegel, der entlang eines großen Weges spaziere. Ein Zitat, dessen verrätselter Sinn einem in dem Moment schlagartig aufgeht, in dem man Svetchine in Bremen als alter Ego des Oskar Roehler auftreten sieht, lange bevor dieser als Figur des Robert Freytag geboren wird. Die wird Svetchine als entzückender Säugling, begriffsstutziges Schulkind und in verzweifelte Libertinage sich flüchtender junger Erwachsener spielen. Doch er ist eben schon vorher auf der Bühne, zugleich an- und abwesend, durchsichtig – obwohl er ja keiner von diesen zerbrechlichen Typen wäre oder so – eine geisthafte Präsenz, wie ein Hauch: Ab und an sagt er etwas, sehr wenig, sehr sporadisch, mit nahezu objektiver Stimme, stellt die Personen vor, nennt sie. Einmal darf er einer der Frauen Feuer geben. Meist bleibt er stumm, mit der passiven Würde des Gegenstandes, unaufdringlich, ein stummer Erzähler, der Zauberspiegel des Romans.
In dem aber zeichnen sich alle Regungen der anderen Figuren ab, wiederholen sich ihre Szenen, ihre Irrungen gewittern übers Gesicht, das er, rätselhaft, vom persönlichen Ausdruck hier befreit zu haben scheint, zur glatten Oberfläche zurücknimmt. Da ist die tiefe und tief anrührend gespielte Enttäuschung des Alexander Swoboda, der sich als Kriegsheimkehrer Erich Freytag nicht willkommen fühlt, zu Hause – und’s auch nicht ist. Da zeigt sich, mehr als in deren Dialog, die Konkurrenz zwischen den Brüdern Heinz und Rolf um die Zuneigung ihres Gartenzwerge fabrizierenden Vaters, Opa Erich. Und da flackert auch der überdrehte Charme von Roberts künftiger Mama, der jungen Nora Ode, deren Zombifikation Lisa Guth später leider so zu spielen versucht, wie Hannelore Elsner sie im Film „Die Unberührbare“ gibt.
Alles ist da, leuchtet kurz auf, als Erstaunen, als Zweifel, als Amüsement – und verlischt. Magisch – und im extrem disziplinierten Spiel der vollkommene Kontrast zum großen, explosiven Monolog, in dem Svetchine den Abend beenden darf: Eine ziellose Wutrede, deren Wörterflut nichts hinterlässt als die Trümmerlandschaft eines Lebens unter Geistern.
Nächste Aufführungen: 13. 2. & 1. 3., 19 Uhr; 23. 2., 18.30 Uhr
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