piwik no script img

Unveröffentlichte Texte großer AutorenAhhhh, frische Muscheln!

In Frankreich kamen zuletzt unveröffentlichte Texte großer Autoren wie etwa Marcel Proust auf den Markt. Was taugen die literarischen Ausgrabungen?

Undatiertes Foto von Marcel Proust (Ausschnitt) Foto: Leemage/imago

Während man sich in diesen naß-grauen Tagen auf Pariser Straßen lauthals über die Gegenwart oder besser gesagt über die Zukunft streitet, greift man in den Buchhandlungen der Hauptstadt derzeit immer öfter auf die Vergangenheit zurück. Unter dem Weihnachtsbaum lagen in diesem Jahr weniger aktuelle, als vielmehr aus tiefen Schubladen und staubigen Dachböden gekramte Romane und Kurzgeschichten, also die unveröffentlichten Texte großer Autoren.

Françoise Sagan zum Beispiel, deren „neuer“ Roman, zu Deutsch „Die dunklen Winkel des Herzens“, in Frankreich schon im September für viel Aufsehen sorgte, aber auch die kürzlich erschienene Kurzgeschichten-Sammlung „Le Mys­té­rieux Correspondant et autres nouvelles inédites“ von Marcel Proust.

Was sagt das über den französischen Buchmarkt? Erscheint die Gegenwart so matt und grau, dass man sich lieber in ein Früher rettet, in dem bekanntlich alles besser war – selbst die Autoren? Oder geht es dem Markt so schlecht, dass man es sich schlicht nicht mehr leisten kann, auf das Talent und den eventuellen Erfolg junger Autoren zu hoffen?

Wie auch immer; daran, dass diese Werke so gut sind, dass man sie keinem Leser vorenthalten darf, liegt es meistens nicht. Im Fall von Françoise Sagan kann man sogar sagen, dieser Roman, den ihr Sohn in einem unbekannten Umfang „fertig geschriebenen“ hat, wäre besser in der Schublade geblieben.

Gut für Liebhaber und Proustianer

Bei Marcel Proust, der für „Im Schatten der jungen Mädchen“ vor genau hundert Jahren, im Dezember 1919, den Prix Goncourt gewann und damit einen kleinen Skandal auslöste, ist es nicht ganz so schlimm – aber auch nicht viel besser. Zumindest aus Laienperspektive.

Das Buch

Marcel Proust: „Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites“. Editions de Fallois, Paris 2019, 188 Seiten, 18,50 Euro

Wahre Liebhaber, eingefleischte Proustianer und solche, die sich für die literarische Entwicklungsgeschichte des großen französischen Autors, seine ersten Zeilen und somit für die Vorarbeiten für sein Mammut- und Meisterwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ interessieren, dürfte dieser kurze Band begeistern. Denn im Gegensatz zu Sagan ist hier nichts „fertig geschrieben“ oder irgendwie zusammengeflickt.

Stattdessen wird jede Kurzgeschichte, und sei sie noch so kurz (teilweise zwei Seiten), von einer fast ebenso langen Einleitung und einem Einordnungstext begleitet. Für den einfachen Leser ist das teilweise mühsam. Nicht jeder hat die sieben Bände der „Recherche“ und jeden Schritt von Albertine und Co. so präsent, dass er die Bezüge zum Hauptwerk nachvollziehen kann.

Im Grunde hat dieser Band, dessen Inhalt ursprünglich Teil von Prousts Erstling „Les Plaisirs et les Jours“ hätte sein sollen, dann aber aussortiert wurde, um den Fokus nicht auf die Homosexualität des Autors zu lenken, mehr etwas von einem Baustein für Wissenschaftler als einem literarischen Bonbon für die Lesermasse.

Doch auch die Durchschnittsleserin findet die ein oder andere „nouvelle inédite“, die hängen bleibt. Etwa jene, die dem Buch seinen Namen gibt: „Le Mystérieux Correspondant“. Dort gesteht ein „mysteriöser Korrespondent“ der feinen Françoise de Lucques seine Liebe und bittet sie, ihn zu sich zu lassen, um sein Liebesleid zu lindern.

Cremiger Käse, guter Käse

Françoise, die, wie einige Figuren in diesem Buch, ein Faible fürs Militär hat, träumt schon von einem jungen Offizier, tatsächlich verbirgt sich hinter diesen Briefen aber, wie man bald erfährt, ein ganz anderer. Eine andere. Nämlich ihre Freundin Christiane, die an einer bis dahin unerklärten Melancholie zugrunde geht.

Unsere Heldin steht schließlich vor einem moralischen Dilemma: Ehebruch begehen und die Freundin retten oder sie der bourgeois-religiösen Moral opfern? Den Ausgang der Geschichte ahnt man – wir sind hier schließlich bei Proust, nicht beim Marquis de Sade.

Das reizendste, amüsanteste Detail an diesem Buch kommt lustigerweise gar nicht von Marcel Proust selbst, sondern von einem Concierge, einem gewissen A. Charmel, dessen Brief man in den angehängten Notizen und Entwürfen findet: Darin hat er für Herrn Proust (ob gebeten oder nicht, das weiß man nicht genau) die Schreie von Paris aufgezeichnet.

Die klangen damals aufgeschrieben in etwa so: „Guter cremiger Käse, guter Käse! Frische Muscheln, ahhhh frische Muscheln! L’Intran, l’inter, die Freiheit, Paris-Sport! Amüsieren sie sich, meine Damen, hier Vergnügen!“ Das war irgendwann Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts.

Heute, im 21. Jahrhundert, klingt es in den Pariser Straßen eher so: „Die Jungen haben’s schwer, die Alten haben nichts mehr … Diese Gesellschaft wollen wir nicht!“ Oder auch: „Macron, du bist hinüber, die Jugend steht auf der Straße!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!