Unterwegs mit menschlichem Maß: Frühling der Langsamkeit
Der technische Fortschritt hat ein wichtiges Moment des Reisens zum Verschwinden gebracht: die mit allen Sinnen gespürte Fortbewegung.
Niemals haben sich in so kurzer Zeit so viele Urlaubspläne zerschlagen: Ein mikroskopisch kleines Virus hat Reisen im handelsüblichen Sinn auf unabsehbare Zeit unmöglich gemacht. Wochenlang im Wohnzimmer oder auf dem Balkon zu sitzen gelingt aber natürlich den wenigsten – und ist ja auch nicht nötig. Umfragen belegen, dass ein Großteil derjenigen, die über Ostern für gewöhnlich das Weite suchen, ausgedehnte Wanderungen und Radtouren in heimatlichen Gefilden gemacht haben, ausgerüstet mit einem kleinen Proviantrucksack. Das überraschende Ergebnis: Den meisten erschienen die Ausflüge durch Wald und Flur weniger als schale Notlösung denn als echte Bereicherung – trotz des Unbehagens in Bezug auf die Pandemie.
Selbstbeschwörung? – Vielleicht. Vielleicht hat die Freude an der Erkundung des allzu unbekannten Nahraums aber auch einen ganz einfachen Grund: Im Lockdown ist mit der hektischen Betriebsamkeit der modernen Alltagswelt auch deren Rückseite mitverschwunden – der Zwang zum Ausbruch in die Ferne. So gesehen wurden wir in diesen Tagen Opfer einer tröstlichen Dialektik: So groß der Frust über die Einschränkungen des gewohnten Aktionsradius auch sein mag, er ist mit dem seltsam befreienden Gefühl verbunden, nirgendwohin zu müssen, eine Auszeit zu erleben vom gewohnten Freizeitleistungsdruck.
Die Corona-“Krise“ trifft uns ohnehin in einer Phase des Zweifels an den Segnungen des weltumspannenden Reisegeschehens. Auch wenn das eigene Urlaubsverhalten nur selten zur Disposition gestellt wird, ist sie immer aufdringlicher geworden – die alte Frage von Hans Magnus Enzensberger, ob der Tourismus nicht das zerstört, was er sucht, indem er es findet. Die Stichwörter: Naturvernichtung, Klimaaufheizung, Overtourism.
Weithin unbedacht bleibt aber eine ganz andere Problemdimension des modernen Reisens: Kein kleiner Teil der heutigen Urlauber bedient sich modernster Mobilitätstechnologien, um ebendieser Welt des Fortschritts für ein paar Tage den Rücken zu kehren. Das bizarre Motto: Mit Vollgas dorthin, wo die Zeit stehen geblieben scheint – in Orte und Regionen, die sich als „Oasen der Entschleunigung“ empfehlen. Ein größerer Selbstwiderspruch ist kaum denkbar.
Dem durchreisten Raum entfremdet
Was man in vor- und frühindustriellen Zeiten „Reisen“ nannte, ist nun mal in zwei Teile zerfallen, die kaum noch in Beziehung miteinander stehen: in die immer kürzer werdende, weil mit leistungsfähigen Transportmaschinen vollzogene Phase der An- und Abreise und das mehr oder weniger stationäre Vorortsein am Reiseziel. Technikkritiker des 19. Jahrhunderts hatten dies als Untergang der Reisekultur gegeißelt: Statt sich so durch die Welt zu bewegen, wie das unserem Bewegungs- und Sinnesapparat angemessen sei, würde man „wie ein Projektil“ an sein Ziel geschossen und damit dem durchreisten Raum (und sich selbst) entfremdet.
Sollte man in den Tagen des touristischen Stillstands nicht mal wieder über die Argumente der damaligen Maschinenstürmer nachdenken? Oder handelt es sich bei der Beschwörung „menschlicher Maße“ nur um romantischen Unfug, um trübes Ressentiment gegen den technischen Fortschritt?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Auffällig ist jedenfalls, dass sich archaische Reiseformen plötzlich wieder größter Popularität erfreuen, mehrwöchige Pilgerwanderungen etwa oder fußläufige Alpenüberquerungen – touristische Aktivitäten, die dem Mobilitätsfortschritt der letzten Jahrzehnte zu spotten scheinen. Könnte es nicht sein, dass sie eine Entwicklung andeuten, die nicht weniger zukunftsweisend ist als die allgemeine Beschleunigung, gegen die sie sich wenden?
In den 1970er Jahren wäre das ein Ungedanke gewesen: Fortschritt war das Gebot der Stunde und die Langsamkeit des Fußgängers sein düsteres Gegenbild. Vergessen waren die lebensweltlichen Ursprünge des Fortschrittsbegriffs, für die sich im „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm ein gerade noch verstehbarer Beispielsatz findet: „Ich befand mich am Eingang eines weiten Raums, wo mein Fortschritt durch ein neues Hindernis gehemmt wurde.“ Das Kompositum meint hier, was es sagt: Man setzt einen Fuß vor den anderen, schreitet aus, kommt voran auf dem, was man seinen Weg nennt.
Der Weg ist das Ziel
Bis zur Ausbreitung mechanischer Fortbewegungsmittel waren „Reisen“ und „Fortschritt“ fast so etwas wie Synonyme, galt die Raumaneignung per Muskelkraft als Urbild und Inbegriff von Fortschritt. Wer zu Lande unterwegs war, schritt fort – von einem Ort zum nächsten, zu Fuß versteht sich, näherte sich seinem Ziel also autonom, langsam und bedächtig.
Die Jakobspilger etwa oder Gottfried Seume bei seinem „Spaziergang nach Syrakus“. Man musste sich der fremden Region und den Mühen des Unterwegsseins noch unvermittelt aussetzen, musste akzeptieren, dass zwischen Wunsch und Erfüllung noch Welten lagen, die erst mal durchmessen werden mussten. Nichts wäre unmöglicher gewesen, als von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit zu springen und alles, was dazwischenlag, zu ignorieren.
Wie man hinkommt? Egal – Hauptsache, schnell und preisgünstig!
Reisen hieß noch nicht, es sich an seinem vorab gebuchten und schnell erreichten Sehnsuchtsort ein paar Tage gut gehen zu lassen, sondern vor allem, auf dem Weg zu sein. Die Unterschiede zur heute dominierenden Mobilitätspraxis liegen auf der Hand: Wege und Zwischenräume sind für den Reisenden des 21. Jahrhunderts zur quantité négligeable geworden.
Nicht nur die jungdynamische kosmopolitische Elite jagt nach „places to see“, die man sich nicht entgehen lassen darf. Alles andere wäre Zeitverschwendung. Land und Leute? Das war einmal! Wie man hinkommt? Egal – Hauptsache, schnell und preisgünstig!
Die Weichen für diesen Wertewandel waren schon zu grimmschen Zeiten gestellt – mit der Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecken. Sie brachten dem Reisenden Erleichterungen, von denen sie zuvor kaum zu träumen gewagt hatten. Allerdings wurde das neue Massentransportmittel hie und da auch skeptisch beäugt und gelegentlich sogar offen kritisiert. Der englische Kunstmaler John Ruskin befand nicht nur, dass das Vorwärtsgleiten auf schnurgeraden Schienensträngen hoffnungslos langweilig war, sondern auch, dass es den Reisenden entwürdigte. Ohne Reiseerfahrung, belebende Außenweltkontakte und bleibende Eindrücke nähme er sich an seinem Zielbahnhof in Empfang – wie ein Paket, das man am Startpunkt aufgegeben hatte. „Das Reisen wird“, schrieb Ruskin, „im genauen Verhältnis zu seiner Geschwindigkeit stumpfsinnig.“
Wie immer man zu den radikalen Ansichten des passionierten Fußgängers auch stehen mag, er hatte die Doppelgesichtigkeit der mechanisierten Fortbewegung erkannt, hatte bemerkt, dass Fortschritte in der Transporttechnik den Horizont zugleich erweitern und einengen und sie das Reisen banalisieren.
Mobilität fordert ihren Preis
Die Virtualisierung der Welterfahrung, die in heutigen Feuilletons immer mal wieder beklagt wird, begann also nicht erst im Fernseh- und Internetzeitalter. Schon für den, der in den Abteilen der ersten Eisenbahnen saß, deformierte sich das Reich der realen Dinge zu einer leblosen Kulisse, die vor dem Fenster vorbeizog. Mit der Erfindung der Dampflok hatte ein ganz neuer Abschnitt in der Geschichte des Reisens begonnen – eine Ära, in der sich der Reisende nicht mehr als Teil des Raums empfindet, durch den er sich bewegt.
Nicht weniger deutlich zeigte sich die Dialektik des Fortschritts später dann beim motorisierten Individualverkehr: Zwar gibt es kaum etwas Faszinierenderes, als selbstbestimmt und zugleich mühelos durch den Raum zu navigieren. Die Kehrseite sei aber eine folgenschwere Verkapselung, mahnte Ehrenfried Muthesius 1954: „Der arme Autofahrer sitzt in seinem Blechbehälter, gefesselt an sein Steuerrad, ausgeschlossen von der belebenden Wechselwirkung mit den Weltkräften, getrennt von der Erde, ohne Eigenbewegung in seinem Miniatursalon.“
Der Mobilitätsfortschritt fordert eben seinen Preis: den Verlust des einstigen Kernstücks der Reise samt seiner Zwischenstationen – und damit auch des Wissens, wo man eigentlich gewesen ist. Dieses Wissen lässt sich nicht anlesen oder ergoogeln. Es verlangt ein Zusammenspiel von Verstand und Sinnesapparat, entsteht nur durch die Kontinuität gelebter Raumerfahrung, die logischerweise mit der Fortbewegungsgeschwindigkeit abnimmt. „Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen“, schrieb Goethe.
Dass diese viel zitierte Sentenz mehr ist als eine hübsche Phrase, deuten die Reisetrends der letzten Zeit an, bei denen das Fortbewegungstempo bewusst verlangsamt wird. Allen voran gilt das für die deutschen Urlaubsradler, die heute einem Fluss von der Quelle bis zur Mündung folgen und inzwischen so zahllos sind, dass sie für manch abgelegene Region zum wirtschaftlichen Rettungsanker geworden sind. Und es gilt für die immer zahlreicher werdenden Zeitgenossen, die heute einmal zu Fuß über die Alpen gehen wollen und dies auch tatsächlich tun, auf dem Europäischen Wanderweg „E5“ vor allem, von Oberstdorf nach Meran. Bis zu 15.000 Übernachtungen zählen die an diesem Weg liegenden Hütten bereits in der Saison. Vor fünfzehn Jahren waren es nicht einmal halb so viele.
Modus der Langsamkeit
Warum solche Mühen in Kauf genommen werden, ist klar: Egal ob man die Sache sportlich oder besinnlich nimmt, man kommt mit Erfahrungen nach Hause, die über die Erfüllung von Leistungsbeweisen weit hinausgehen. Schließlich hat man den durchquerten Raum als organische Einheit erlebt, hat mitbekommen, wie die Szenerie sich Schritt für Schritt verändert und zu welch unglaublichem „Fortschritt“ der eigene Laufapparat befähigt.
Aber sind das alles nicht nur hilflose Rückzugsgefechte, die sich bald totgelaufen haben werden? Um das zu glauben, muss man ein lineares Geschichtsbild haben, an dessen Anfang der aufrechte Gang und an dessen Ende die Pauschalreise durch die Galaxis steht. Realistischer ist es, im aktuellen Verlangen nach fußläufigen Selbst- und Welterfahrungen das Moment eines gesellschaftlichen Fortschritts zu sehen – ein Anzeichen für die Überwindung einer kulturellen Phase, in der man sich von den Errungenschaften der Technik blenden und zugleich unter- und überfordern ließ.
Eine Rehabilitierung der Wege und Zwischenräume hat stattgefunden
Der allenthalben vernehmbare Slogan von der „Entdeckung der Langsamkeit“ lässt jedenfalls erkennen, dass die klassischen Fortschrittsparameter „Beschleunigung“ und „Komfort“ ab einer gewissen Erfüllung belanglos werden. So zuverlässig der Schnelltransport auf Asphaltbahnen, Schienen und in der Luft den Aktionsradius des Urlaubers auch erweitert und seinen zweckpraktischen Sinn erfüllt, ein metaphysischer Mehrwert wird ihm kaum noch attestiert. Diejenigen, die sich ohne allzu große Anreise im Modus der Langsamkeit von Ort zu Ort be-wegen wollen, mögen nach wie vor eine Minderheit sein, ihre Zahl nimmt jedoch kontinuierlich zu.
Das heißt nicht, dass die meisten Deutschen bald nur noch auf Drahteseln und Schusters Rappen unterwegs sein werden. Es heißt aber, dass eine Rehabilitierung der Wege und Zwischenräume stattgefunden hat, ein wachsender Teil der Bevölkerung ganzheitliche Mobilitätserlebnisse für unverzichtbar erachtet – selbst wenn man bei der Anreise und seinem jährlichen Haupturlaub nach wie vor der Logik der Zeit- und Kraftersparnis folgt.
Was einmal als Fortschrittsverweigerung belächelt worden war, hat sich – zumindest hierzulande – als eine zeitgemäße und gesellschaftlich respektierte Reiseform etabliert, und das in allen Altersgruppen und Schichten.
Gewiss, niemand wird sich nach den derzeitigen Reisebeschränkungen zurücksehnen, wenn sie einmal aufgehoben sein werden. Zugleich scheint in der Phase der erzwungenen Verlangsamung aber auch jene innere Ruhe auf, die man im Zeitalter der totalen Mobilität so oft vergeblich sucht. Vielleicht bleibt also die Einsicht, dass man auch mal auf die Reizdichte exotischer Urlaubsziele verzichten kann, wenn man den Reichtum der Sinneserfahrungen ausschöpft, die die Fortbewegung mit eigenen Körperkräften verschafft – eine Fortbewegung, bei der „auch die Muskeln ein Fest feiern“, wie es bei Nietzsche heißt.
Und schließlich ist Frühling, die Jahreszeit, in der einem die Lebendigkeit der Natur besonders eindrücklich vor Augen steht und man die Lebensfreude auch am eigenen Körper spürt, besonders, wenn man durch die erblühende Landschaft fortschreitet, Schritt für Schritt – in der einzigen Weise der Weltaneignung, die uns im wahrsten Sinne des Wortes auf den Leib geschnitten ist.
Leser*innenkommentare
boidsen
Bingo - mein Hund und ich sehen das genauso :-)
Elli Pirelli
Gern gelesen, danke! Ich fuße und radle fast immer. Nur so fühle ich mich lebendig.