Unterwegs mit dem Berliner Kältebus: Frieren auf der Straße
Der Kältebus der Berliner Stadtmission versucht Wohnungslose für die Nacht unterzubringen, die als Notfälle gemeldet sind. Nicht immer gibt es Dankbarkeit.
Kurz vor Abfahrt erscheinen Maria* und Jörg* am Bus. „Wir wollen hier weg. Uns wird es zu gefährlich“, sagt Maria, nervös um sich blickend. Die „Nazis“ würden sie bedrohen. Die kleine Frau trägt nur einen dünnen Bademantel und Turnschuhe. Jörg, der neben ihr im Rollstuhl sitzt, bricht plötzlich in Schmerzensschreie aus: „Mein Steißbein ist verrutscht!“, ruft er. Strube und Hennig fackeln nicht lang, verstauen den Rollstuhl auf der Rückbank und bringen die beiden in die Unterkunft der Kältehilfe am Goslarer Platz in Charlottenburg.
Die Einrichtung, die erst seit Anfang Dezember 2024 geöffnet ist, bietet 150 Notübernachtungsplätze. Berlinweit gibt es 1.165. Es reicht vorne und hinten nicht: die Auslastung lag im Dezember bei durchschnittlich 90 Prozent. In den vergangenen Nächten mussten die Fahrer*innen der Kältebusse laut Stadtmission immer wieder obdachlose Menschen abweisen, weil die Unterkünfte belegt waren. „Je später am Abend es wird, desto häufiger kommt das vor“, bestätigt Hennig. „Die Anzahl der verfügbaren Plätze variiert täglich, weil viele kleinere Unterkünfte nur an wenigen Tagen oder zu bestimmten Uhrzeiten geöffnet sind.“
Ein weiteres Problem: nur zwei der rund 30 Unterkünfte in Berlin sind barrierearm. „Anfang der Saison gab es keinen einzigen freien Liegeplatz für Personen mit Rollstuhl“, erzählt Strube. Auch die Unterkunft am Goslarer Platz, die 10 „barrierearme“ Plätze ausweist, verfügt nicht über eine barrierearme Dusche. Hinzu kommt der Mangel an niedrigschwelligen Unterkünften: Menschen, die alkoholisiert oder in ihrer Mobilität stark eingeschränkt sind, haben kaum eine Chance auf einen Schlafplatz. „Nur drei Unterkünfte nehmen sie überhaupt auf“, so Strube.
Als Maria und Jörg versorgt sind, verschafft sich Strube einen Überblick über die Auftragslage. Auf einem Tablet werden ihr alle Fälle potenziell gefährdeter Personen angezeigt, die Passant*innen, Polizei, Krankenhäuser oder die Leitstelle der Berliner Verkehrsbetriebe melden. Die Fälle werden in einem Ampelsystem vorpriorisiert und je nach Dringlichkeit rot, gelb oder grün markiert.
Der erste Einsatz des Abends führt das Team zum Bundesplatz in Schöneberg. Unter einem S-Bahn-Viadukt liegt eine Person, eingewickelt in einen Schlafsack. Strube steigt aus dem Bus und kniet sich vor dem Mann nieder: „Hey, wie heißt du?“. Keine Reaktion. „Willst du in die Wärme in eine Unterkunft?“ Der Mann zieht den Schlafsack hoch bis unter die Augen. „Tee? Suppe? Eine Decke“, fragt sie weiter. Ein vorsichtiges Nicken.
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„Da kann man nichts machen, wenn Leute nicht mitwollen“, sagt Hennig. Viele hätten soziale Ängste, schlechte Erfahrung oder Angst vor Uninformiertheit. Niemand muss einsteigen, wer nicht in eine Unterkunft gebracht werden will, wird mit Tee, Instantsuppe, Decken, Schlafsäcken, Schals und Mützen versorgt. „Manchmal muss man auch kleine Tricks anwenden“, erklärt Hennig. „Ich habe für die Obdachlosen immer Zigaretten dabei. Das ist ein Gesprächsöffner, dann tauen sie häufig auf“, berichtet er aus Erfahrung.
Hennig, 76, engagiert sich schon seit 12 Jahren bei der Berliner Kältehilfe. Was sich seit seiner Anfangszeit verändert hat? „Es werden immer mehr obdachlose Menschen.“ Schätzungen der Wohlfahrtsverbände zufolge sind zwischen 8.000 und 12.000 Menschen in der Hauptstadt obdachlos. „Als ich angefangen habe, waren es noch 6.000“, erinnert er sich. Auch die Zahl der Übernachtungen in den Notunterkünften stieg laut Kältehilfe im Dezember um 8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Zusätzlich verschärft wird die Situation durch die angespannte Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Sozialarbeiter*innen berichten von immer mehr obdachlosen Menschen mit großen gesundheitlichen Problemen oder Behinderungen. Während es in den 1990er Jahren oft noch möglich war, relativ schnell eine Wohnung zu finden, sind viele Betroffene heute über Jahre hinweg ohne festen Wohnsitz – mit massiven gesundheitlichen Folgen.
Als der Kältebus gegen 21 Uhr in die Tübinger Straße in Charlottenburg-Wilmersdorf einbiegt, wartet Anna* schon seit 3 Stunden in der Caritas-Wärmestube – denn diese schließt um 18 Uhr. Seit 25 Jahren lebt die Berlinerin auf der Straße. Sie hat einen Dauerschlafplatz in einer Einrichtung in Wannsee, einem Ortsteil im äußersten Westen der Stadt. Als Strube die Nachricht überbringen muss, dass der Bus sie heute Nacht nicht bis nach Wannsee fahren kann, ist die Enttäuschung groß: „Das ist ja eine Katastrophe! Geben Sie mir Ihre Nummer, damit ich die rot durchstreiche und ja nicht nochmal anrufe!“, empört sie sich.
Strube versucht zu beruhigen: „Ich will ehrlich sein. Es ist heute Nacht eine Scheiß Kombi: Wir sind wenig Leute, es ist kalt und glatt. Normalerweise bringen wir dich dahin, wo du einen Dauerschlafplatz hast, aber das können wir heute Nacht nicht leisten.“ Zeitgleich versucht sie der älteren Dame einen Schlafplatz zu organisieren. Drei Unterkünfte sind nicht erreichbar, in der vierten sind alle Betten belegt. Schließlich findet Strube ein freies Bett bei „Eva’s Haltestelle“ im Wedding. Dort wird Anna gegen halb zehn fluchend abgegeben.
Die Einrichtung ist eine der wenigen reinen Frauenunterkünfte in der Hauptstadt. Obwohl Schätzungen zufolge rund ein Drittel der obdachlosen Menschen in Berlin Frauen sind, sind von den 1.165 Notübernachtungsplätzen nur rund 158 Plätze für Frauen vorgesehen.
Zurück im Bus nimmt Strube einen großen Schluck Club Mate. Noch knapp 4 Stunden geht die Schicht für die 29-Jährige, die sich in dieser Saison zum ersten Mal bei der Berliner Kältehilfe engagiert. Auf Strubes Tablet laufen stetig neue Fälle ein: „Neukölln, Erkstraße: stark betrunkener Mann sitzt eingenässt und ungeschützt auf dem Boden“, leuchtet es rot auf. „Die Auftragslage ist weiter stabil“, scherzt sie.
Nach dem Umweg in den Wedding übernimmt das Team Aufträge in der Nähe und landet in Moabit. Eine Bewohnerin eines Wohnhauses nahe des U-Bahnhofs Birkenstraße hat gemeldet, dass seit dem Vorabend zwei Personen im Hausflur des obersten Stockwerks schlafen. Strube bahnt sich entschlossen den Weg nach oben, wo sie zwei Personen vorfindet, die auf Pappen auf dem Boden liegen. „Hallo, wir sind von der Kältehilfe“, sagt sie. „Es tut mir wahnsinnig leid, aber Sie müssen hier leider weg. Sonst rufen die Bewohner*innen die Polizei“.
Eine Obdachlose auf das Angebot, in eine Notunterkunft zu kommen
Die Frau ist frustriert: „Ein krönender Abschluss eines wunderbaren Tages!“, sagt sie sarkastisch und packt wutentbrannt ihre Sachen zusammen: Klopapier, eine Jacke, einen provisorischen Mülleimer und Aschenbecher. Sogar ein Duftspray hat sie gekauft, um die Bewohner*innen nicht zu belästigen. Strube bietet ihr einen Schlafplatz in einer Notunterkunft an. Sie winkt ab: „Brauche ich nicht. Ich kenn den ganzen Scheiß, das habe ich alles hinter mir“, sagt sie und verschwindet fluchend in die kalte Nacht.
Ihr Begleiter möchte zur Drogen- und Suchthilfe „Fixpunkt“ am Leopoldplatz im Wedding gebracht werden. Doch auch diese Einrichtung ist bereits seit 18 Uhr geschlossen. Strube und Hennig versuchen ihn zu überzeugen, eine Unterkunft für die Nacht anzunehmen – ohne Erfolg. „Bringt mich einfach zum Leo“, sagt er erschöpft. Dort wärmen sich im U-Bahnhof obdachlose Menschen auf, konsumieren Crack und anderes.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ein Mann, der angibt, Unterstützung bei Drogenproblemen zu brauchen, bekommt von Strube einen Flyer mit Hilfsnummern. Andere werden mit Schlafsäcken, Isomatten und Mützen versorgt – auch dies keine Selbstverständlichkeit. Denn obwohl der Kältebus längst ein fester Bestandteil der von Anfang November bis Ende März laufenden Kältehilfe ist, finanziert sich das Projekt, abgesehen von einer Förderung durch den Bezirk Neukölln, ausschließlich durch Spenden.
Strube und Hennig tun an diesem Abend, was sie können. Viel Dankbarkeit erhalten sie dafür nicht. Hennig lässt sich davon nicht entmutigen: „Ich arbeite immer gern mit Menschen“, sagt er mit einem Lachen. Zudem sei es nicht immer so: „Die extreme Kälte frustriert viele.“
*Name von der Redaktion geändert
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