Unterhaus-Speaker John Bercow: Lust an der Provokation
John Bercow leitet das britische Unterhaus und lenkt Debatten ungeniert. Früher war er Chef besonders durchgeknallter Thatcher-Groupies.
Das war nicht absehbar, als John Bercow im Alter von 46 Jahren Speaker wurde. Es war damals, im Juni 2009, die Dämmerzeit der Labour-Regierung, und die Wahl eines Konservativen zum Präsidenten des Unterhauses nahm den Machtwechsel 2010 voraus. Aber eben nicht irgendeines Konservativen, sondern dieses Enkels jüdisch-rumänischer Emigranten namens Berkowitz, der quer zu allen Lagern agiert.
Bercow wuchs in London in einfachsten Verhältnissen auf und wollte eigentlich Tennisprofi werden, wofür er aber zu klein war. Also ging er in die Politik, in der Thatcher-Ära der 1980er Jahre. Er wurde Chef der rechtskonservativen Federation of Conservative Students (FCS), Sammelbecken der besonders durchgeknallten Thatcher-Groupies an den Universitäten, das durch Störaktionen auf sich aufmerksam machte und lautstark Solidarität mit Apartheid-Südafrika oder die komplette Privatisierung des Bildungswesens forderte.
Die FCS wurde schließlich als zu rechtsradikal aufgelöst, aber ihr Chef Bercow blieb der Parteiführung verbunden, wurde Stadtrat in Südlondon und 1997 schließlich Wahlkreisabgeordneter für das südenglische Buckingham, das er bis heute im Unterhaus vertritt.
Perückenzwang für sich selbst abgeschafft
Der FCS-Politikstil „Viel Feind, viel Ehr“ prägt bis heute Bercows Stil: die Lust an der gezielten Provokation, der Regelbruch im Sinne der eigenen Sache. Er hat das Unterhaus modernisiert, den Krawattenzwang für Abgeordnete und den Perückenzwang für sich selbst abgeschafft, aber er gehört auch zu jener Generation radikaler Brutalo-Thatcheristen, die konservative Ehrfurcht verachten und die Zerstörung des Bestehenden predigen, damit sich am Ende der Stärkere durchsetzt.
Dies prägt auch heute seinen Instinkt im Parlament, wenn Regierung und Hinterbänkler über die Hoheit über den Brexit streiten. Mal kramt der Speaker obskure Präzedenzfälle aus dem Jahr 1604 hervor, um Theresa May zu ärgern, dann wieder nennt er Präzedenz hinderlich, weil sich sonst nie etwas ändern würde.
Kritiker bemängeln nicht nur diese Skrupellosigkeit. Zweifelhafte Vorfälle in Bercows Umgang mit Mitarbeiterinnen hätten ihn schon fast seinen Job gekostet, wenn die Labour-Opposition sich nicht schützend vor ihn gestellt hätte. Und Bercows Hang zu antiquierter Rhetorik und Theatralik ist nicht seinem Amt inhärent, sondern lediglich seiner Vorstellung davon. Aber einmalig ist diese Vorstellung durchaus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich