: Unterhalb der Netzkante
■ Während Boris Becker daheim in Vaterfreuden schwelgte, schied Michael Stich in der ersten Runde der Australian Open gegen Mali Vai Washington (USA) aus
Berlin (taz/dpa) – John McEnroe und Jimmy Connors waren noch Amerikaner von altem Schrot und Korn. Die Nummer eins zu sein, war für sie das höchste der Gefühle, für Waschlappen wie den Schweden Mats Wilander, der in jungen Jahren einmal gesagt hatte, es sei ihm völlig wurscht, ob er die Nummer drei oder die Nummer eins sei, hatte einer wie McEnroe nur mitleidige Verachtung übrig. Wilander wurde dann später doch die Nummer eins und stellte genau das fest, was er von Anfang an gemutmaßt hatte: Es bedeutete ihm nicht viel. Als er im Januar 1989 bei den Australian Open früh ausschied und damit nicht mehr der beste aller Tennisspieler war, setzte er sich in sein Auto, fuhr zwecks Meditation zum Ayers Rock, konnte fortan kaum noch Ehrgeiz für seinen Sport aufbringen, spielte lieber Gitarre, ist aber – just for fun – mit einer Wildcard diesmal in Melbourne wieder dabei und hat sogar die zweite Runde erreicht.
Auch McEnroes Epigonen aus dem eigenen Land scheinen nicht sonderlich erpicht darauf zu sein, vom Computer als bester Racketschwinger der Welt ausgespuckt zu werden, obwohl Boris Becker jedem, der solches behauptete, einst jede Glaubwürdigkeit absprach: „Die Computerliste ist unsere Bibel. Jeder, der sagt, das interessiert ihn nicht, lügt.“ Andre Agassi äußerte zwar mal, daß es nicht gut für das Tennis sei, wenn jemand mit so langen Armen wie Pete Sampras an der Spitze stehe, selbst macht der Jüngling mit dem Aussehen eines kurzarmigen Banditen aber wenig Anstalten, an dessen Stelle zu treten. Auch Jim Courier zeigt sich oft so demotiviert und mangelhaft vorbereitet, daß man es ihm getrost abnehmen kann, wenn er sagt, daß ihn die Nummer eins wenig interessiere. Und Pete Sampras wirkt ohnehin so, als sei er völlig zufällig nach oben geraten.
Das legitime Erbe der ehrgeizigen Connors/McEnroe/Lendl-Generation haben in erster Linie die deutschen Tennisspieler angetreten. Boris Becker schwebte im siebten Himmel, als er Anfang 1991 für kurze Zeit das war, für was er sich schon lange hielt: der Größte. Und trotz etlicher Kierkegaardscher Relativierungsversuche hatte ihm das Gefühl so gut gefallen, daß er im letzen Jahr alles daransetzen wollte, noch einmal an die Spitze zu kommen. Das ging schief, dafür wurde er gestern Vater, brachte allerdings den bislang namenlosen Sohn, entgegen des im Mediendschungel erweckten Eindrucks, keineswegs selbst zur Welt. Auch Söhne von Tennisgurus haben eine Mutter, in diesem Fall die 27jährige Barbara Feltus, die die Geburt, so weit man das den Meldungen entnehmen kann, ähnlich gut überstanden hat wie der Vater.
Die Rolle des Tennis-Kronprinzen hat ohnehin längst Michael Stich übernommen, der sich nach einigem Drängen und Sträuben doch dazu hat überreden lassen, zuzugeben, daß er 1994 die Nummer eins werden möchte. Ein grober Fehler, denn seither geht es ihm wie Becker ein Jahr zuvor. Er verliert immerzu. Zuerst im Finale des Grand Slam-Cups gegen Petr Korda, dann in der Wüste von Doha gegen den Haitianer Ronald Agenor und nun in der ersten Runde der Australian Open gegen MaliVai Washington (USA).
„Ich bin einfach müde vom letzten Jahr“, begründete der Noch- Weltranglistenzweite die 6:7 (4:7), 3:6, 6:3, 2:6 gegen Washington und befand: „Ich habe gespielt wie ein Anfänger und die Quittung für schlechtes Tennis kassiert.“ Genauso gleichmütig, wie er sich am Schluß des 2:34 Stunden dauernden Matches auf dem Centre Court in sein Schicksal ergab, lieferte er anschließend die Analyse. „Ich wußte ja teilweise nicht einmal, wie es gerade stand“, beschrieb er seine geistige Verfassung, und ebenso unverblümt sagte er über seine körperliche Fitneß: „Alles, was unterhalb der Netzkante ist, ist im Moment zuviel für mich.“ Vor allem läge sein „beschissenes Spiel“ aber daran, daß er sich eine viel zu kurze Regenerationszeit vor dem Start in die neue Saison einräumte. „Am liebsten hätte ich ein Jahr Pause gemacht“, so Stich.
Es wurden aber nur gut zwei Wochen, weil er nach den Triumphen beim ATP-Finale und dem Davis-Cup-Endspiel auch noch beim Grand Slam-Cup in München angetreten war. Ein Fehler, wie er jetzt einsah. „Da gibt es zwar eine Menge Geld zu verdienen, aber es zahlt sich nicht aus. In diesem Jahr werde ich dort nicht mehr spielen“, verkündete er als Konsequenz daraus, „daß ich nicht einmal Zeit hatte, meine Erfolge zu realisieren und zu genießen“.
Den Angriff auf die Position des offensichtlich etwas besser erholten Pete Sampras muß Stich erstmal verschieben und kann sich statt dessen getrost eine Erkenntnis des glorreichen Grand Slam- Cup-Siegers Petr Korda zu eigen machen, der in Melbourne gegen den Schweden Tomas Enqvist ebenfalls ausschied: „Es dauert so lange, bis man oben ist. Aber es geht so schnell, daß man wieder unten ankommt.“ Matti Lieske
Männer: Washington - Stich 7:6 (7:4), 6:3, 3:6, 6:2; Mronz - Kilderry 6:1, 6:2, 6:4; Holm - Dreekmann 7:5, 6:4, 6:4; Siemerink - Zoecke 6:3, 7:6 (7:4), 4:6, 6:3; Steven - Karbacher 6:2, 5:2 Aufgabe Karbacher; Gaudenzi - Braasch 6:4, 6:2, 6:0; Palmer - Prinosil 7:6 (7:4), 6:4, 1:6, 1:6, 6:8; Muster - Weiss 6:3, 6:3, 6:3; Boetsch - Blake 6:2, 6:4, 6:0; Edberg - Sanchez 6:3, 6:0, 6:3; Martin - Yzaga 6:3, 7:6 (7:3), 6:2; Gustafsson - Smith 3:6, 7:5, 6:2, 2:6, 6:2; Wolkow - Masur 6:4, 6:4, 6:2; Ferreira - Meligeni 6:4, 6:3, 7:6 (10:8); Rafter - Wekesa 6:1, 3:6, 6:1, 6:2; Morgan - Tschesnokow 6:3, 6:7 (7:9), 7:6 (7:5), 4:6, 6:4; Daufresne - Johansson 6:7 (5:7) 6:2, 7:5, 6:3; Antonitsch - Matsuoka 4:6, 7:6 (7:4), 7:6 (7:2), 6:4; Kafelnikow - Bryan 4:5 aufgegeben; Vacek - Bergström 6:3, 1:1 aufgegeben; Enqvist - Korda 6:3, 6:4, 7:6 (7:2); Rikl - Larsson 1:6, 7:6 (7:4), 6:3, 6:0; Kulti - Fleurian 6:4, 6:2, 7:5; Stolle - Lareau 6:3, 3:6, 7:5, 3:6, 6:2; Woodbridge - Sullivan 6:7 (4:7), 4:6, 7:6 (7:5), 6:4, 6:3; Bjorkman - Thorne 3:6, 6:4, 6:7 (3:7), 7:5, 6:2; Jonsson - Black 6:3, 7:5, 6:4; Eltingh - Garner 6:4, 6:4, 6:4; Tscherkassow - Woodforde 6:1, 2:6, 6:1, 7:5
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