piwik no script img

Unsoziale Politik macht Streik populär

Das Kalkül der Bundesregierung, die ÖTV zum Sündenbock zu stempeln, scheint nicht aufzugehen  ■ Aus Bochum Walter Jakobs

1974, beim letzten Streik der ÖTV, genügten drei Tage Arbeitskampf und die ÖTV hatte sich durchgesetzt: elf Prozent mehr Lohn lautete das Ergebnis. Der große Verlierer hieß seinerzeit Kanzler Willy Brandt, der mit erheblichem Getöse gegen einen zweistelligen Zuwachs Front gemacht hatte. Achtzehn Jahre wahrte die ÖTV seither Ruhe, so viel Ruhe, daß viele Mitglieder und Funktionäre innergewerkschaftlich aufmuckten und der Führungsetage in Stuttgart vorwarfen, sie habe die ÖTV zu einem „tarifpolitischen Papiertiger“ gemacht. Daher wäre die Annahme des Schlichtungsangebotes von 5,4% — zu der die Gewerkschaftsführung bereit war — den Beschäftigten in vielen Bereichen des öffentlichen Dienstes nur schwer zu vermitteln gewesen. Bei einer Preissteigerungsrate von 4,8% im März — auch im Jahresdurchschnitt ist sicher mit mehr als 4% zu rechnen — und der steigenden Abgabenbelastung der Arbeitnehmereinkommen stellt sich das Schlichtungsergebnis real als Lohnpause, wenn nicht sogar als Lohnverzicht dar. Jetzt, nach sechs Tagen Streik, kann die ÖTV- Vorsitzende Monika Wulf-Mathies den Beschäftigten kaum noch mit einem 5,4%-Ergebnis kommen. Von dieser tarifpolitischen Logik wußten die Arbeitgeber, als sie die Schlichtung scheitern ließen. Daß sie sich selbst diesem maßvollen Lohnwachstum verweigerten, kommt deshalb unter finanzpolitischen Gesichtspunkten einer Torheit ersten Ranges gleich. Doch Kanzler Helmut Kohl ist kein politischer Depp. Die finanzpolitische Torheit gehörte zum Kalkül, denn aus Bonner Sicht ging es nicht darum, die Differenz zwischen 4,7 und 5,4 Prozent den öffentlichen Kassen zu ersparen. Die Bonner suchen nach einem Sündenbock für das finanzpolitische Fiasko der deutschen Einheit und dieser Part soll nach dem politischen Drehbuch von Kohl den Gewerkschaften zufallen. Daß sich die Sozialdemokraten unter anderem in Gestalt der schleswig-holsteinischen Finanzministerin Heide Simonis daran beteiligen, spricht nicht dagegen, sondern ist nur ein weiterer Beleg für die politisch strategische Ahnungslosigkeit der Sozis.

Ob das Kalkül des schwarzen Riesen in Bonn aufgeht, scheint mehr als fraglich. Die meisten abhängig beschäftigten Menschen reagieren gelassen und äußern trotz aller Erschwernisse durch den Streik Sympathie für die Streikenden — mehr als jemals zuvor.

Es scheint, als sei der Streik deshalb populär, weil wegen der Zumutungen der Bonner Politik und der Solidaritätsappelle von millionenschweren Wirtschaftsmanagern die Schmerzgrenze vieler Menschen erreicht ist. Wenn die Vorstandsetagen sich zweistellige Gehaltszuwächse genehmigen, wie kürzlich bei Siemens, und die Steuergesetzgebung der Bonner Politik dafür sorgt, daß die Vielverdiener und Superreichen heute besser dastehen als vor der Vereinigung, dann entpuppen sich Maßhalteappelle aus den oberen Etagen schlicht als obszönes Geschwätz. Wer es in dieser Situation „denen da oben“ mal zeigt, findet Unterstützung. Innergewerkschaftlich schließt der Streik die Reihen fest, obgleich die lineare Forderung in der ÖTV selbst umstritten bleibt. Tatsächlich begünstigt die prozentuale Lohnerhöhung die besser verdienenden Angestellten, während diejenigen, die eine kräftige Einkommensverbesserung nötig hätten, mit ein paar Mark abgespeist werden.

Für die unteren Einkommensschichten rechnet sich der Streik rein materiell nur, wenn am Ende wesentlich mehr als 5,4% herauskommt. Ein 31jähriger lediger Müllader, seit acht Jahren im Beruf, verdient mit Zulagen 3.089,52 Mark brutto im Monat. Das letzte Angebot der Arbeitger in Höhe von 4,7% brächte ihm 150,57 Mark mehr. Bei dem Schlichertangebot von 5,4% kämen 27 DM im Monat hinzu. Einen Monat Streik bescherte dem Müllader trotz Streikgeld mehrere hundert Mark Einkommensverlust. Läge die Lohnerhöhung nach einem Monat Arbeitskampf in der Nähe des Schlichterspruchs, dauerte es Jahre, bis der streikbedingte Einkommensverlust wieder wett gemacht wäre. Je länger der Streik, um so höher die Erwartungen. Wer die dann enttäuscht, verliert auch politisch. Deshalb wird der Streik wohl nicht mehr lange dauern. Das Spielen auf Zeit wird politisch zu teuer, weil die geplante Sündenbockrolle nicht funktioniert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen