Unsinnige Wahlprognosen: Wetten, dass …?
Wahlprognosen, wie aktuell zur US-Wahl, sind mindestens so verbreitet wie Sportwetten. Dabei fangen sie keine Stimmung ein, sondern machen selbst welche.
M it Wahlprognosen verhält es sich wie mit der Zeitumstellung: niemand braucht sie, jeder redet drüber und sie sind eine Plage für Körper, Geist und Gesellschaft. Umfragen und Wahlprognosen finden mittlerweile schon am ersten Tag nach Regierungsbildung statt: „Naaaaaaaaaa!“, fragen die Wahlforscher total unbefangen, wertfrei und ohne jeden Unterton „Wie lang glauben Sie, wird diese Regierung halten?“
Nicht immer, aber immer häufiger sind diese Umfragen so seriös wie die Frage der Zeugen Jehovas: „Das Weltende ist nah. Haben Sie schon eine Versicherung dafür abgeschlossen? Wir hätten da für alle Fälle eine wirklich kostengünstige, mit der Sie wieder ruhig schlafen können.“
Die Ergebnisse dieser Umfragen werden in Talkshows, Nachrichtensendungen und Zeitungen präsentiert und genutzt, als seien sie unkorrumpierbare Daten. Die Umfragewerte samt Kommastellen suggerieren, dass das Wahlverhalten präzise wie eine Feinwaage gemessen werden könnte.
Dabei sind sie so pädagogisch wertvoll wie der Preis von 18,99 Euro auf der Speisekarte eines Restaurants. Als hätte man den Befragten Blut abgenommen und würde nun die Zahlen aus dem großen Blutbild referieren. Dabei sind auch Blutwerte erst dann aussagekräftig sind, wenn Menschen vom Fach sie richtig interpretieren.
Eine Art Fake News
Diese Stimmungsbarometer behandeln die Gesellschaft, als wäre sie eine Patient*in, der man jeden Morgen ein Fieberthermometer in den Po steckt, um festzustellen, wie es ihr geht.
Statt aber dem Wohlergehen der Gesellschaft zu dienen, dienen Umfragen nur noch als Nachrichtenersatz. Aber sind sie wirklich eine Nachricht wert? Wahlprognosen Jahre und Monate vor einer Wahl sind eher ein Scherz. Sie sind kein Abbild von Stimmungen, sie machen Stimmung.
In gewisser Weise könnten diese Wahlumfragen weit vor einer Wahl sogar als eine Art Fake News gelten. Nicht, weil sie alle so wahnsinnig falsch lägen – sogar die viel gescholtenen Ergebnisse der Umfragen vor dem Brexit und der US-Wahl 2016 lagen so falsch gar nicht. Aber eben nur die, die kurz vor den Wahlen die Stimmung der Wahlberechtigten abfragten.
Unter der Masse droht der Kollaps
Fake News ähnlich sind diese Umfragen oft, weil sie suggerieren, dass es News gibt, wo es eigentlich nur Nichts gibt. Allein diese Sonntagsfrage. „Wenn am Sonntag Wahl wäre …“
Am Sonntag ist aber keine Wahl, es ist also völlig egal, was Menschen auf diesen Quatsch antworten. Sie würden in einer Woche vielleicht schon wieder was ganz anderes antworten und erst recht in ein, zwei oder drei Jahren.
Mit den Wahlprognosen verhält es sich wie mit dem Overtourism: Unter der Masse droht der Kollaps. Das Ergebnis, das wirklich nah an der Wirklichkeit ist, geht völlig unter. Dazu kommt, die Zeiten, in denen man sein Leben lang CDU wählte, weil es schon der Großvater immer so gehandhabt hat, sind vorbei.
Es wird knapp. Und jetzt?
Ein einziges Ereignis – ein Lachen zum falschen Zeitpunkt – kann dazu führen, dass man sein Kreuz woanders macht.
Es wird knapp, lautet die Prognose für die US-Wahl. Yo. Und? Dass es knapp wird, sagten auch die Prognosen für die Landtagswahl in Thüringen. Trotzdem wirkten die Parteien so, als seien sie von dem Ergebnis und der Sabotage-Aufführung bei der konstituierenden Sitzung völlig überrascht. Was also bringen diese ewigen Umfragen?
In den vergangenen Tagen wurde die vom Trump-Anhänger Peter Thiel finanzierte Wettplattform Polymarket heftig dafür kritisiert, dass sie Wetten auf den möglichen Sieger der US-Wahl anbietet und damit falsche Tatsachen vortäusche: Trump liegt dort mit einigem Abstand vorne. Elon Musk wird nicht müde zu betonen, dass die Wetten ein realistischeres Abbild seien als die Umfragen. US-Bürger*innen ist es allerdings verboten, auf dieser Plattform Wetten abzuschließen. Die Aussage, dass Trump hier vorne liegt, ist also in der Tat buchstäblich Spekulation.
Suggestiv? Aber nicht doch
Dass auch Nachrichten in deutschen Sendeanstalten nichts als absurde Spekulationsspiele sein können, zeigte Dunja Hayali am Donnerstagabend im heute-journal: Sie präsentierte eine Umfrage, nach der „nur noch“ 45 Prozent der Deutschen glaubten, dass Kamala Harris die US-Wahlen am Dienstag gewinnt. Vor zwei Wochen seien es noch 72 Prozent gewesen. Aha. Und? Was ist daran weniger absurd, als Wetten über den Wahlausgang abzuschließen?
Sollen die Deutschen nun ihre Verwandten in Ohio und L. A. anrufen und Bescheid geben, dass Trump wieder Präsident wird?
Ein paar Minuten später am selben Donnerstag zeigte Maybrit Illner in ihrer Talkshow eine andere Umfrage: 85 Prozent hätten dem Forsa-Institut zu Protokoll gegeben, dass die Bundesregierung keine durchdachten Konzepte zur Bewältigung aktueller Krisen hat.
Suggestiv? Aber nicht doch. Einfach nur eine völlig wertfreie Umfrage, die man in Umlauf bringen kann und trotzdem glaubt, dass man damit etwas ganz anderes macht, als es die Wettspiele von Figuren wie Peter Thiel und Elon Musk tun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour