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Unser Regime ist „die Mauer“

■ Von Liu Binyan

Als ich im Oktober 1985 zum ersten Mal West-Berlin besuchte, bin ich lange an der Mauer spazierengegangen. Die Kränze an und vor der Mauer, die den nach Freiheit strebenden Opfern gewidmet waren, machten mich traurig. Wie viele Jahrzehnte wird es noch dauern, bis die sündige Mauer fällt, wieviel junges Leben wird bis dahin noch begraben werden müssen, fragte ich mich damals.

Nach fünf Jahren kehrte ich wieder in die Stadt zurück. Aber nicht einmal im Traum hätte ich 1985 erwartet, daß bei meinem zweiten Besuch die Mauer samt ihren Erfindern inzwischen bereits der Vergangenheit angehören könnte.

Das Fallen dieser Mauer hat auch die jahrzehntealten Illusionen der Chinesen zerschlagen: In China galt die DDR als ein sozialistisches Musterland, das wegen seiner wirtschaftlichen Entwicklung, politischen und gesellschaftlichen Stabilität an der Spitze des sozialistischen Blocks stand. Der seit den fünfziger Jahren geführte Kampf der osteuropäischen Völker hatte noch bis vor kurzem zu keinem Erfolg geführt. Es schien unmöglich, den Sozialismus zu erschüttern.

China reagierte auf jede Revolution in Osteuropa und in der Sowjetunion mit konterrevolutionären Gegenangriffen: Maos „Anti-Rechts-Kampagne“ von 1957 war eine Reaktion auf die ungarische Revolution von 1956. Eine Million Intellektuelle wurden zu „Feinden des Volkes“ erklärt. Im Gegenzug zu den Reformen von Chruschtschow startete die chinesische KP den jahrzehntelangen „Kampf gegen den modernen Revisionismus“, der unter anderem in der

Kulturrevolution eine wichtige Rolle gespielt hat.

Nach der Entstehung der Gewerkschaft Solidarnosc in Polen 1979/80 befürchteten die greisen chinesischen Politiker ähnliche Entwicklungen für ihr eigenes Land. Daraufhin haben sie die Pressefreiheit erneut eingeschränkt und die Reformen des politischen Systems aufgegeben. Aber die Entwicklungen im letzten Jahr verliefen ganz anders.

Die Meldungen über die verschiedenen Ereignisse, vom Fallen der Mauer bis zur Hinrichtung von Ceausescu, ließen die greise chinesische Führung vor Schreck erstarren. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als mit aller Kraft eine möglichst weitgehende Nachrichtensperre durchzusetzen. Für eine offizielle Verurteilung reichte ihr Mut nicht aus.

Die chinesische KP hatte in den ersten zwanzig Jahren ihrer Herrschaft (1949-1969) keine Mauer nötig. Die überwiegende Mehrheit der Chinesen stand damals auf ihrer Seite und sah die für die Freiheit kämpfende Minderheit innerhalb der Bevölkerung als unversöhnliche Feinde an. Die damaligen Chinesen sahen im Verlust ihrer Freiheit nichts anderes als den notwendigen Preis für den baldigen Aufbau eines kommunistischen Paradieses. Für sie war die KP die Verkörperung von Wahrheit und Moral.

Erst in den siebziger Jahren haben sie entdeckt, daß jenes Regime die eigentliche Mauer ist, die alle Chinesen gefangenhält. Die im Jahr 1989 in Hunderten von chinesischen Städten durchgeführten Demonstrationen liefern uns einen Beweis dafür, daß jene Mauer aber bereits durchlöchert ist (die Berichterstattung der westlichen Medien hat nicht einmal einen Bruchteil der tatsächlichen Dimension erfassen können!) Der Versuch des chinesischen KP-Regimes, mit einem Massaker, Festnahmen und Säuberungen die Löcher zu flicken, ist zum Scheitern verurteilt.

Die historischen Veränderungen in China gehen gewöhnlich einen anderen Weg als im Westen. Die chinesische Mauer, die die KP aus Soldaten und Bürokraten gebaut hat, kann nicht innerhalb einer Nacht fallen. Das KP-Regime in China wird nicht in einer Explosion verschwinden. Es wird langsam durch Fäulnis und Auflösung ein Ende finden. Die Soldaten und Polizisten, die die wichtigen Stellen der Mauer noch verteidigen, geben sich nach außen zwar noch loyal, aber viele Hunderte politisch Verfolgter, nach denen landesweit gefahndet wurde, konnten sich gerade mit ihrer Hilfe ins Ausland absetzen. Hinter der Mauer von Zhongnanhai (Zhongnanhai ist das Regierungsviertel in Beijing. La Mu) findet sich niemand, der so aussieht wie Gorbatschow, aber in Wirklichkeit warten viele, die so denken wie er, auf ihre Zeit, auf ihr Jahr 1985.

Übersetzung: La Mu

Liu Binyan, geboren 1925, engagierte sich 1943 bis 1945 für den von der chinesischen kommunistischen Partei geführten antijapanischen Krieg. 1951 begann er, als Zeitungsjournalist zu arbeiten. Er setzte sich durch das Verfassen von „Reportageliteratur“ dafür ein, die Schattenseite der chinesischen KP und der chinesischen Gesellschaft zu entlarven und zu kritisieren. 1957 wurde er deshalb als „Rechtsabweichler, der sich gegen die Partei und gegen den Sozialismus stellt“, verurteilt. Nach seiner Rehabilititerung 1979 setzte er seine alte kritische Schreibweise fort und erzielte in China große Resonanz. Anfang 1987 wurde er zum zweiten Mal aus der Partei ausgeschlossen. 1988 reiste er zu einem Besuch in die USA. Nach dem Massaker am 4. Juni 1989 verurteilte er die KP -Führung und wurde deshalb von der KP als „Verräter“ und „Landesverräter“ beschimpft. Zur Zeit lebt er im Exil.

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