: Unruhige Zeiten in Äthiopien
Nach den Gewaltausbrüchen der letzten Woche mit über 30 Toten bleibt die Lage angespannt. Anlass waren studentische Proteste. Eine Kontroverse über den Sinn des Friedens mit Eritrea schwächt die Regierung und ermutigt die Opposition
aus Addis Abeba DOMINIC JOHNSON
Wenn es stimmt, dass Scherben Glück bringen, müssen die drei Millionen Einwohner der äthiopischen Hauptstadt sehr glücklich sein. Zerbrochenes Glas säumt die lebhaften Straßen des Geschäftviertels Piazza – hier auf dem Bürgersteig verstreut, dort sauber in Haufen zusammengekehrt. Das ist die Hinterlassenschaft der Unruhen der vergangenen Woche – der schwersten in Addis Abeba seit der Machtergreifung der amtierenden Regierung 1991.
31 Menschen starben nach ofiziellen Angaben, über 41 nach einer inoffiziellen Zählung, als es am Mittwoch vergangener Woche am zweiten Tag massiver Studentendemonstrationen zu Ausschreitungen randalierender Jugendlicher kam, die die Polizei blutig beendete. „Der Mob kam aus zwei Richtungen“, erinnert sich Yavan Abraham, der in Piazza Sofas verkauft. „Die Polizisten schossen in die Luft und rannten weg. Der Mob warf Steine auf die Polizisten. Dann kam Polizeiverstärkung“ – aber erst, nachdem schon eine Reihe von Geschäften verwüstet war. „Hier war das Silber drin“, sagt Souvenirladenbesitzer Sefe Selassie und zeigt traurig auf den kahlen roten Samt seiner zerbrochenen Vitrine. „Wir wissen noch nicht genau, wie hoch der Schaden ist. Wir zählen noch.“
Auch staatliche Behörden und Firmen waren Zielscheibe. Im Bildungsministerium gähnen leere Fensterhöhlen. Vor der Telefongesellschaft gab der Wachmann seine Waffe den Demonstranten, die Schäden in Millionenhöhe anrichteten.
Begonnen hatten die Proteste am 11. April, als Studenten gegen die Anwesenheit einer Polizeistation auf dem Universitätsgelände demonstrierten und über 40 beim nachfolgenden Polizeieinsatz verletzt wurden. Die Studenten traten in den Streik und lehnten ein Angebot der Regierung ab, den Polizeiposten irgendwann aufzulösen. Als das Bildungsministerium ihnen ein Ultimatum zur Rückkehr in die Hörsäle setzte, gingen sie am 17. und 18. April auf die Straße.
„Es war eine spontane Bewegung“, sagt Mehari Taddele Maru, ehemaliger Präsident der Studentengewerkschaft von Addis Abeba. Er berichtet auch von Klagen über Zensur und Einschränkung politischer Betätigungsrechte. „Die Studenten sind nicht organisiert. Andere Organisationen haben ihren Protest benutzt.“ Das sei nicht verwunderlich, denn natürlich hätten Äthiopiens Oppositionsgruppen auch Studenten als Mitglieder. Die Regierung sieht das ähnlich. Die Menschenrechtsgruppe EHRC (Ethiopian Human Rights Council) habe in „Reden, die auf Anstiftung zur Gewalt hinauslaufen“, Studenten aufgewiegelt, erklärte die Polizei am Sonntag im Staatsfernsehen. Auch die Oppositionsparteien AAPO (All-Amhara People's Organisation) und EDP (Ethiopian Democratic Party) seien „an Akten der Zerstörung und Plünderei beteiligt“ gewesen. Die Polizei verschweigt die eigene GEwalt nicht: 9 der 31 Toten seien „unglückliche Opfer fehlgeleiteter Kugeln“ gewesen; andere seien „beim Versuch, Gefangene zu befreien“, getötet worden.
Die harte Reaktion der Staatsmacht hat ihren Grund. Wenn die Studenten von Addis Abeba demonstrieren, zittert Äthiopien. „Gucken Sie die letzten Jahrzehnte an. Immer haben die Studenten angefangen“, sagt Ladenbesitzer Abraham. Es waren die Studenten von Addis Abeba, die 1974 den Sturz des Kaisers Haile Selassie einleiteten, und in den folgenden Jahren war die Universität ein Schauplatz des Machtkampfs zwischen den jetzt herrschenden jungen Militärs, der 1977 mit dem Sieg kommunistischer Hardliner unter Mengistu Haile Mariam endete. Seit Mengistu 1991 durch die Rebellenbewegung TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) gestürzt wurde, die Äthiopien bis heute als Kern der Regierungspartei EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der äthiopischen Völker) mit harter Hand regiert, herrschte Ruhe. Aber das ist jetzt vorbei. Denn seit dem offiziellen Ende des zweijährigen Krieges gegen Eritrea mit seinen 120.000 Toten im Dezember 2000 ist die äthiopische Politik in Bewegung geraten. Die herrschende TPLF hat sich gespalten. Eine Gruppe von elf „Dissidenten“, darunter der einflussreiche Exverteidigungsminister Siye Araha und der Präsident der Regionalregierung von Tigray, Gebru Asrat, wurde am 20. März aus der Führung entfernt. Am 9. April verlor Asrat auch seinen Posten als Regionalpräsident. Zwei Tage später begannen die Studentenproteste.
Die „Dissidenten“ kritisieren vor allem Äthiopiens Friedensschluss mit Eritrea. Sie finden, dass Äthiopien im Juni 2000, als seine Armee erstmals tief in eritreisches Gebiet eingedrungen war, hätte weitermarschieren und Eritreas Regierung stürzen sollen, statt einen Waffenstillstand und später ein von UN-Blauhelmen überwachtes Friedensabkommen zu schließen. Sie beschimpfen, sagt ein Insider, das Regierungslager als „ER-positiv“ – eine böse Gleichsetzung vom Friedenswillen mit Eritrea und einer HIV-Infektion. Man hat ihnen die Telefone gekappt und die Dienstwagen beschlagnahmt, aber viele äußern Sympathie mit den „Dissidenten“.
Denn dass die Regierung überhaupt in solche Schwierigkeiten gerät, gilt im autoritätsgewohnten Äthiopien, wo Politiker traditionell Politik als Privatangelegenheit betrachten, als Zeichen von Führungsschwäche. Ein Journalist sagt: „Beide Fraktionen werfen sich gegenseitig Machtmissbrauch vor. Beiden Seiten geht es um die Kontrolle des Staates. Seit zehn Jahren haben die Tigreer die Regierung unterstützt; jetzt fangen sie an nachzudenken.“
Zwar soll heute die seit dem 18. April geschlossene Universität von Addis Abeba wieder geöffnet werden, kündigte die Regierung am Sonntag an. Aber aus immer mehr Provinzstädten werden inzwischen auch Schülerproteste gemeldet. Und in der Hauptstadt bleibt die Lage gespannt: schwer bewaffnete Polizisten patrouillieren auf Straßen und Märkten.
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