Universal-Inhalte auf TikTok entfernt: Leise zirpen die Grillen
Universal Music hat TikTok Millionen von Songs entzogen und fordert mehr Geld für Künstler*innen. Viele von ihnen sind auf die Plattform angewiesen.
„Seit meine TikTok-Sounds offline sind, kann ich endlich wieder das echte Leben in der Natur spüren“, sagt der Berliner Rapper Ski Aggu gewohnt humorvoll in einem aktuellen TikTok-Beitrag. Ohne die aus China betriebene Kurzvideo-App wäre er heute wahrscheinlich kein Star. Seinen ersten Nummer-eins-Hit hatte er letzten Sommer dank der Neuinterpretation des Otto-Waalkes-Songs „Friesenjung“ und einer geschickten TikTok-Kampagne, in der er sich mit dem Komiker zeigte.
Seit Donnerstag sind die Videos, die den Song bewarben, jedes Hunderttausende Male aufgerufen, stumm. „Sound wurde wegen Urheberrechtsbeschränkungen entfernt“, steht als Hinweis am Bildschirmrand. Ski Aggus Kanal wirkt nun geisterhaft. Minutenlang kann man sich durch Videos wischen, sieht ihn tanzen und in die Kamera rappen, sieht johlende Menschenmengen bei Konzerten, nur hört man dazu nichts.
Auch die Songs von Taylor Swift sind betroffen, dem aktuell erfolgreichsten Popstar der Welt. Die des Rappers Drake, der oftmals auf virales Marketing setzte, oder die der TikTok-affinen Sängerin Olivia Rodrigo. In manchen ihrer Videos ist noch Musik zu hören. Klickt man aber auf das Schallplattensymbol, das normalerweise ermöglicht, einen Songausschnitt selbst weiterzuverwenden, erhält man eine Fehlermeldung.
Die Situation ist noch uneinheitlich. Klar ist: Betroffen sind die Künstler*innen der Universal Music Group und ihrer Tochterfirmen.
Problem mit KI-generierter Musik
Universal ist neben Warner und Sony das wichtigste Musiklabel der Welt, hat am globalen Musikmarkt einen Anteil von knapp einem Drittel. Nun hat es seinen Lizenzvertrag mit TikTok nicht verlängert. Das Unternehmen nennt dafür mehrere Gründe, allen voran niedrige Tantiemen. Vergleichbare Plattformen würden für die Verwendung der urheberrechtlich geschützten Musik ein Vielfaches bezahlen, heißt es in einem Statement von Universal. Zudem ermutige TikTok aktiv dazu, KI-generierte Musik einzusetzen. Das könne echte Musiker*innen verdrängen. Dabei sei das Geschäftsmodell von TikTok auf deren Rücken aufgebaut.
In diesem Punkt hat Universal zweifellos recht. Nach den Anfängen als App für Tanz- und Lip-Sync-Videos ist TikTok heute ein soziales Netzwerk, auf dem alle möglichen Inhalte stattfinden. Musik ist aber ein integraler Bestandteil. Selbst die BookTok-Szene, die sich eigentlich mit Literatur beschäftigt, untermalt Videos mit Songs – bevorzugt natürlich mit jenen, die auf der App gerade im Trend liegen. Es ist also ein starker Verhandlungshebel, den Universal betätigt hat: die Kataloge einiger der größten Pop- und auch Internetstars der Welt zurückzuziehen.
Andererseits ist die Musikindustrie abhängig von TikTok. Die Plattform ist ein Taktgeber. Ein Beispiel: „Es war keine Phase, Mama! Es ist ein Lifestyle“, rief Ende 2020 ein TikTok-Nutzer in die Kamera und drehte dann auf seinem Autoradio die Zweitausenderjahre-Pop-Punk-Band All Time Low laut auf. Das kurze Video setzte den Grundstein dafür, dass Pop-Punk wieder ein Ding und aus den Charts nicht mehr wegzudenken ist.
TikTok-Nutzer*innen nehmen es mit Humor
Auseinandersetzungen zwischen Tech- und Musikindustrie, vor allem in Bezug auf Fragen zu Lizenzierung und Vergütung, gibt es mindestens seit Beginn des Online-Musikvertriebs. Warner ließ 2008 seinen Katalog bei YouTube verstummen. Erst neun Monate später gab es eine neue Einigung. In der Zwischenzeit hatten Künstler*innen protestiert, weil ihnen Aufmerksamkeit durch die Lappen ging.
Diesmal könnte es ähnlich laufen: Ski Aggu ist nicht der Einzige, der ohne TikTok vermutlich keine Konzertarenen füllen könnte. Im Statement von Universal wird von einer „Auszeit“ gesprochen. Je länger die dauert, desto mehr Druck werden Künstler*innen machen, weil ihnen ein wichtiger Marketingkanal fehlt. Ob die besseren Tantiemen, die das Label aushandeln will, das kompensieren können, ist völlig unklar.
TikTok-Nutzer*innen reagieren auf die Ereignisse derweil mit Humor. Die Tanzgruppe Bronx Sistas rappt in einem Video einfach selbst den Song von Ski Aggu, der zu ihrer Choreografie gehört. Andere unterlegen Videos mit Grillenzirpen und erklären so die unwirkliche Atmosphäre der stumm geschalteten TikToks zum Trend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
G20-Gipfel in Brasilien
Milei will mit Kapitalismus aus der Armut
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört