: Unglaublich: Jung-Literat – Haare ab!
■ Benjamin von Stuckrad-Barre liest aus „Deutsches Theater“ und verliert die Entertainer-Oberhand
unächst sieht alles so aus wie im Fernsehen, also so, wie immer: Benjamin von Stuckrad-Barre rumpelt auf die Bühne, zerrt eine Flasche Wasser, ein paar CDs und einen Stapel Papier aus seiner Tasche, verteilt alles auf seinem Tisch und wühlt fahrig darin herum. Nebenbei kalauert er sich warm mit ein paar Schoten aus dem Stuckrad-Barre-Leben, Liga: „Als ich kürzlich in Friedrichhafen Johnny Morphium traf“. So war das bei Stuckrad-Barres MTV-Leseshow, so wird er es Abend für Abend machen auf seiner Lesereise zum neuen Buch „Deutsches Theater“.
Entertainer-Alltag. Aber irgendwie läuft's nicht an diesem Abend im Schlachthof, obwohl der gebürtige Bremer vor ausverkauftem Haus ein Heimspiel gibt. Was Stuckrad-Barre zu Bremen einfällt ist, dass er am nächsten Tag in Göttingen lesen wird. Und Göttingen wäre scheiße, wegen dem schleppenden Vorverkauf. Dafür gibt's für die Bremer einen „Schoki-Osterhasen“ und ein paar Blumen. Stuckrad-Barre stellt sie zur freien Verfügung an den Bühnenrand und niemand greift zu. Es läuft einfach nicht, beiderseits.
Was auch an Stuckrad-Barres Richtungswechsel liegt. „Deutsches Theater“ ist eine Textsammlung, die die „Inszenierung des öffentlichen Lebens“, das „Mediengetröte“ und die „Choreographie der Demokratie“ untersucht. Ziel des Ganzen ist einerseits zu entlarven, andererseits durch Spott und Sinn fürs Detail zu unterhalten. Vom jungen Dandy, der sich mit seinem „Soloalbum“ (1998) in die Abiturientinnen-Herzen einschrieb, ist nicht mehr viel übrig geblieben.
Stuckrad-Barre präsentiert stattdessen Lifestyle-Enthüllungsjournalismus, in der ersten Hälfte des Abends ausschließlich aus der Perspektive der Kleinen und Geknechteten: Verkleidet als lebensgroßes Handy ist er im Berliner Olympiastadion für eine Promotion-Firma unterwegs gewesen, beim Fischbrötchen-König Gosch hat er sich als Lohnarbeiter für niedere Tätigkeiten eingeschlichen. Im Gegensatz zu Günther Walraff hat das allerdings nichts Idealistisches. Stuckrad-Barre möchte austeilen und er möchte sich abgrenzen. Zum Beispiel von den Hertha-Fans, die „so inbrünstig ,Sieg' schreien, wie es nur Verlierer können.“
Die eigenen Fans bringt Stuckrad-Barre mit solchen Sätzen nicht zum Schreien und weil er das nicht gewöhnt ist, muss etwas passieren. Eine „Saalwette“ fällt ihm ein, falls ein Friseur anwesend sei, könnte der ihm die Haare schneiden, während er liest. Müdes Lächeln im Publikum. Der Scherz ist längst vergessen, als sich nach der Pause eine rothaarige Frau mit Rasierapparat meldet. Eine, bei der man sich denkt: Das geht nicht gut.
Stuckrad-Barre wehrt sich erst, als die eine Hälfte des Kopfes kahl rasiert ist. Während des Rasierens bedient sich ein Zuhörer aus der ersten Reihe bei seinem Wasser und ein anderer fordert: „Weiterlesen“. Der Entertainer hat die Show nicht mehr im Griff, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum fällt. Und Stuckrad-Barre lacht sich tot als er merkt, dass er gerade dabei ist, sein Schnösel-Image zu demontieren.
Völlig abstürzen lässt er den Abend allerdings nicht und das wäre auch gar nicht möglich gewesen: In seinen Texten verhandelt er in diesem zweiten Teil Medieninszenierungen, berichtet vom Schwachsinn der Formel-Eins-Interviews oder dem Wahlkampf Eberhard Diepgens. Als dezidiert kamerafreundlicher Jungliterat ist Stuckrad-Barre selbstverständlich Teil dieser Medienwelt und wenn ihm an diesem Abend im Blitzlicht der Kopf rasiert wird, dann lässt sich das deuten als ironischer Selbstkommentar. Oder als Hommage an Rainald Goetz, der sich während seiner ersten Lesung beim Ingeborg-Bachmann-Preis vor laufenden Kameras mit einer Rasierklinge die Augenbraue aufschlitzte. Oder schlichtweg als Komponente einer Show, die mit vollem Einsatz über die Bühne geht.
Worauf er mit dieser Aktion hinaus wollte, das wusste Stuckrad-Barre am Ende des Abends wohl auch nicht so genau. Nach dem letzten Wort flüchtet er von der Bühne. Früher standen die Fans nach der Lesung immer vor Stuckrad-Barres Tisch Schlange, um sich ihr „Soloalbum“ signieren zu lassen. „Deutsches Theater“ ist da anders: Wenn der Vorhang fällt, gehen alle heim. Und lesen bestenfalls die Kritiken.
Klaus Irler
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