Ungarischer Autor über Kertész: „Kertézs litt sehr unter den Angriffen“
Imre Kertész war kein bequemer Autor. Er forderte in seiner Heimat Ungarn Widerspruch heraus, sagt der Schriftsteller György Dalos.
taz: Herr Dalos, welche Bedeutung hat der verstorbene Nobelpreisträger Imre Kertész für Ungarn?
György Dalos: Imre Kertész hat mit seinen beiden Meisterwerken „Roman eines Schicksallosen“ und „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ die ungarische Literatur bereichert. Er gehört jetzt schon zu den Klassikern.
Nun galt Kertész in seinem Heimatland Ungarn auch als ein Nestbeschmutzer, der auf die ungarische Mitschuld am Holocaust verwiesen hat. Wie ist das zu verstehen?
Es ist eine schlechte ungarische Tradition, Ausland und Inland strikt auseinanderzuhalten. Ich glaube, wenn Kertész als in der ganzen Welt bekannter Schriftsteller in Deutschland etwas über Ungarn sagte, dann wurde das anders bewertet, als wenn er dies in Ungarn gesagt hätte. Das ist, so glaube ich, ein Zeichen der Provinzialität unseres Landes. Kertész, der kein Politiker war, zog daraufhin den Zorn von rechten bis rechtsradikalen Kreisen auf sich und litt sehr unter diesen Angriffen.
Kertész hat mit seinen Romanen auch an einem Tabu gerührt.
Der „Roman eines Schicksallosen“ erschien erstmals 1975. Das Thema war damals kein absolutes Tabu. Ich glaube aber, dass Kertész damals die Lektoren mit seiner völlig souveränen, eigentlich ironischen Schilderung des Holocaust mit den Augen eines Heranwachsenden in Verlegenheit brachte. Der Holocaust war in der kommunistischen Zeit in Ungarn ein nur sehr vorsichtig behandeltes Thema. Natürlich konnte man Romane über den heldenhaften antifaschistischen Widerstand der Kommunisten schreiben. Aber die Realität wurde in nur sehr wenigen Texten authentisch dargestellt. Und diese Authentizität hat damals gestört.
geboren 1943, wuchs in Budapest in einer ungarisch-jüdischen Familie auf und ist Schriftsteller. Wegen staatsfeindlicher Äußerungen erhielt er 1968 Berufsverbot und arbeitete fortan als Übersetzer. 1987 zog er nach Wien, heute lebt er in Berlin. Zu seinen Veröffentlicgen zählen "Proletarier aller Länder, entschuldigt mich" (1993), "Ungarn in der Nussschale" (2004) und "Geschichte der Russlanddeutschen" (2014)
Im Jahr 2014 hat Kertész den Stephansorden angenommen, dessen Geschichte bis in die Zeit der rechtsautoritären Führung Ungarns während des Zweiten Weltkriegs reicht. Hat er damit seinen Frieden mit der ungarischen Politik gemacht?
Ich glaube, dass er als alter und kranker Mann von all diesen Angriffen einfach müde geworden ist. Er wollte endlich seine Ruhe haben. Aber er hat sie nicht bekommen – trotz dieser sehr freundlichen Geste gegenüber der ungarischen Regierung.
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