piwik no script img

Und immer schön dicht dranbleiben

Bier, Berlin, Beziehungen, banaler Alltag: In Prenzlauer Berg tagt wöchentlich die Lesebühne „Blauer Drache“

Es gab mal eine Zeit, da nahm man eine Gitarre, lernte zwei Akkorde, trank Bier und erstieg die Bühne im Freizeitheim: Die Musik war schön laut, und Spaß machte es auch. Selbst wenn man nie besser spielen lernte und größere Erfolge ausblieben, für einen Abend war man der Held, bekam das Bier umsonst und war im Nachhinein ein populärkulturelles Phänomen, ein fruchtbarer Nährboden für Kommendes: Ohne Schweinepunk kein New Wave und all das.

Aber Musik war früher, heute ist Literatur, und wenn die Analogie nicht trügt, steht uns reiche Ernte ins Haus: ein Wort, ein Text und rauf auf die Bühne, zum Beispiel am Montagabend im Café Krüger in der Lychener Straße. Im toten Ende der Kneipe ein Podest, im Vordergrund ein voller Bierkasten, daneben ein Mikrofon, am Tisch sitzen Leute mit marmorierten Einlegemappen: Die Lesebühne Blauer Drache. Drei Frauen, vier Männer, seit März treten sie hier an Montagen auf. Eine hübsche Homepage haben sie auch, mit Fotos.

Pünktlich gegen neun tritt Konrad Endler ans Mikrofon, die Gitarre umgeschnallt. Soundcheck. Taxi-Micha, schon etwas älter, kahlgeschoren und noch auf anderen Bühnen der Stadt zu Hause, hörtestet. „Wenn die Gitarre zu leise ist, klingt es wie a cappella, und das kann nicht gewollt sein.“ Nein, die Gitarre ist gut zu hören, es ertönt das Eröffnungslied. Endler singt mit viel Gefühl und starker Stimme. Akkorde und Stimme suchen die harmonische Nähe und finden sie nicht immer, die Silben quetschen sich auf die vorhandenen Takte. Passt doch. Dann begrüßt Tristan Steinweg die etwa zwanzig Gäste und stellt vor: Blauer Drache sind neben ihm, Endler und Micha Bettina Andrae, Thilo Bock, Natalia Hantke und ihre Tochter Anna – alle wieder vereint nach Urlaub und Sommerloch. Dazu für diesen Abend als Gast eine Frau mit Namen Üht. Vorgetragen wird im Wechsel. Die Themen sind bewährt: Bier, Berlin, Beziehungen und banaler Alltag, unterlegt mit der einen oder anderen Obszönität und den Berichten von diversen Ausscheidungen. Was deutschen Kinokomödien gut tut, kann der Literatur nicht schaden.

Es dominiert der Erlebnisbericht und die Überzeugung, lieber ein Wort mehr vorzutragen, als es einfach zu streichen. Bock liest von Beziehungsschwierigkeiten und einer Rückführungstherapie. Sein Ich durchlebt Werthers Selbstmord. Andrae setzt nach: Eine Charakteristik des Einheimischen, in der Tradition Theophrasts und Canettis, wie sie ankündigt. Doch die hochliterarischen Entgleisungen bleiben glücklicherweise Zitat, Steinwegs Geschichte von den trunkenen Freuden der Bienen und dem Leid der Drohnen führt wieder sicher zurück in seichte Gefilde. Michas Erzähler-Ich, mit dem Autor zumindest gut bekannt, erlebt im Blauen Montag die Nachwirkungen eines sonntäglichen Grillexzesses in der Strandbar Mitte. Immer dicht dran am persönlich Erlebten – die Kollegin Andrae, wohl beim Absturz dabei gewesen, windet sich verlegen auf ihrem Stuhl.

Jenseits des Wiedererkennungseffektes werden die Gags zwar dünner, aber wen schert es: mit dieser Bühnenpräsenz könnte er auch Telefonbücher erfolgreich vortragen. Hantke berichtet von Online-Reisebuchungs-Erfahrungen und den Abgründen eines Teneriffaurlaubs, mit ehrlicher Empörung und charmantem russischem Akzent, zudem multiperspektivisch gebrochen: Tochter Anna schildert die Reise aus ihrer Sicht. Multimedial präsentiert Üht eine Geschichte von Rentierwoman: ein Schwesterndrama inklusive Kastration in Diabildern.

Dann das Unerwartete: am offenen Mikrofon ein Gast aus Jamaika, eine wunderschöne Frau im exotischen Kleid präsentiert „spheric dub“. Reggaeartig gereimter Sprechgesang, gekonnt präsentiert, musikalisch vom Band unterlegt, auf Englisch und allein schon deshalb sphärisch entrückt. Im Hintergrund dilettiert Endler mit der Fernbedienung, doch gelingt es ihm nicht, den utopischen Vorschein zu zerstören. Auch das könnte Lesebühne sein. Erst Bock vertreibt den Zauber mit einem schiefen Gesang auf zwei Klavierakkorden endgültig. Pünktlich um 11 ist es vorbei und der Kasten Bier leer. Den Vortragenden hat es sichtlich Spaß gemacht, vereint und fröhlich stimmen sie ein letztes Lied an, das Publikum applaudiert. Geschafft. Der Humus für zukünftige literarische Herrlichkeiten. CARSTEN WÜRMANN

Lesebühne „Blauer Drache“ montags im Café Krüger, Lychener Straße 26, Beginn 21 Uhr, Eintritt 3 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen