Unbegleitete Minderjährige in Sachsen: Leipzig kommt nicht hinterher
In Sachsen kommen so viele minderjährige Geflüchtete an wie seit Jahren nicht mehr. Weil es an Kapazitäten mangelt, werden sie kaum versorgt.
Seit dem Spätsommer suchen immer mehr Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien in Deutschland Schutz – darunter viele Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Familie geflohen sind. Sachsen hat bis einschließlich Oktober 14.679 Asylbewerber:innen aufgenommen – hinzu kommen Tausende ukrainische Geflüchtete, die separat erfasst werden, weil sie kein Asyl beantragen müssen. In den vergangenen Jahren war die Zahl der in Sachsen registrierten Asylsuchenden deutlich niedriger, auch in den Jahren vor der Pandemie.
Wenn Kinder oder Jugendliche ohne ihre Familie anreisen, werden sie vom jeweiligen Jugendamt vorläufig in Obhut genommen. In einem sogenannten Clearing-Verfahren wird dann entschieden, welche Unterstützung die Geflüchteten brauchen. Danach werden sie langfristig auf die Kommunen verteilt.
Die Städte Leipzig, Dresden und Chemnitz sowie der Landkreis Görlitz haben schon weit mehr Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, als sie laut den Vereinbarungen nach dem Königsteiner Schlüssel müssten. Vor allem in Leipzig und Chemnitz sind die Einrichtungen überlastet, wie eine Umfrage der taz ergeben hat.
Mitarbeitende sprechen von Kindeswohlgefährdung
In Leipzig, der größten Stadt Sachsens, gibt es nur eine Erstaufnahme- und Clearingstelle für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Sie heißt „Am Mühlholz“ und verfügt über 48 Plätze. Im September, als besonders viele minderjährige Geflüchtete in Sachsen angekommen sind, hat die Einrichtung zeitweise 80 junge Menschen beherbergt. Anfang November waren 65 Jugendliche in dem Haus untergebracht. Das teilte das Leipziger Jugendamt auf Anfrage mit. Ähnlich hoch belegt sei die Inobhutnahmeeinrichtung bislang nur 2015 und 2016 gewesen.
Das Jugendamt Leipzig versichert, dass das Kindeswohl trotz der Überbelastung „zu keiner Zeit“ gefährdet gewesen sei. Die Geflüchteten seien 24 Stunden am Tag betreut worden, auch auf Beschulung habe man trotz Personalmangel nicht verzichten müssen.
Fragt man die Mitarbeiter:innen der Einrichtung „Am Mühlholz“, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Die Situation sei für die Jugendlichen und Mitarbeitenden „seit Monaten katastrophal und kräftezehrend“, antwortete eine Fachkraft, die ihren Namen nicht nennen möchte. „Die Jugendlichen schlafen zu viert oder fünft in Zimmern, die für zwei Personen ausgelegt sind, oder in Aufenthaltsräumen ohne Tür, ohne Privatsphäre.“ Es mangele an Kleidung, Hygieneartikeln und Lebensmitteln. Arztbesuche fielen aus, weil es zu wenig Personal gebe, um die Geflüchteten zur Praxis zu begleiten. Jugendliche mit ansteckenden Hautkrankheiten könnten aufgrund von Platzmangel nicht isoliert werden, wodurch tagtäglich die Ansteckung anderer Bewohner:innen riskiert würde. „Aktuell ist das Wohl der Kinder und Jugendlichen gefährdet“, sagte die Fachkraft. „Wir Mitarbeitenden haben das Gefühl, dass das Landesjugendamt wegschaut.“
Damit sich die Situation verbessert, brauche es „dringend“ mehr Fachpersonal und Räumlichkeiten, um die Jugendlichen unterzubringen, sagte die Fachkraft. Außerdem fordert sie eine bessere Ausstattung, um vernünftig arbeiten zu können. Es fehle sogar an Kleinigkeiten wie Druckern oder Stempeln.
Juliane Nagel, die asylpolitische Sprecherin der Linksfraktion im sächsischen Landtag, kritisiert den Zustand in der Leipziger Erstaufnahmeeinrichtung scharf. „Die heutige Situation ist das Resultat des massiven Abbaus von Kapazitäten nach der großen Fluchtbewegung ab 2015. Die Verantwortlichen müssen zur Kenntnis nehmen, dass Fluchtbewegungen in Intervallen wiederkommen“, sagte Nagel.
Die Standards bei der Unterbringung wurden gesenkt
Die Linken-Politikerin fordert das Landesjugendamt Sachsen dazu auf, die Kinder und Jugendlichen im Anschluss an das Clearing-Verfahren auf diejenigen Landkreise zu verteilen, die ihrer Aufnahmeverpflichtung noch nicht nachgekommen sind. „Die Entwicklung der Zahlen war absehbar. Das Landesjugendamt hätte längst stärker für ein funktionierendes Verteilverfahren sorgen und die Kommunen beim Aufbau von Kapazitäten unterstützen müssen“, sagte Nagel.
Viele Landkreise in Sachsen haben bisher deutlich weniger unbegleitete minderjährige Geflüchtete aufgenommen, als es der Königsteiner Schlüssel vorsieht. Der Landkreis Vogtland zum Beispiel müsste 5,5 Prozent der in Sachsen ankommenden jungen Schutzsuchenden unterbringen. Mitte September hatte der Landkreis diese Quote erst zu 63 Prozent erfüllt. Das geht aus einer Antwort des sächsischen Sozialministeriums auf eine Anfrage der Landtagsabgeordneten Nagel hervor.
Fragt man das Sozialministerium, warum das Landesjugendamt die jungen Schutzsuchenden so ungleichmäßig verteilt, heißt es: „Die sächsischen Großstädte sind für unbegleitete minderjährige Ausländer:innen Reiseziele. Soweit bei der vorläufigen Inobhutnahme ein Verteilhindernis (…) festgestellt wird, verbleiben diese an Ort und Stelle, sodass sich dies in der Erfüllungsquote bemerkbar macht.“ Wenn zum Beispiel ein geflüchteter Jugendlicher kurzfristig mit einer verwandten Person in Leipzig zusammengeführt werden kann, dann darf das Landesjugendamt den Schutzsuchenden nicht auf einen unterbelegten Landkreis verteilen.
Um schnell neue Unterkünfte zu schaffen, hat das sächsische Sozialministerium Anfang Oktober die Standards bei der Versorgung und Unterbringung von geflüchteten Minderjährigen gesenkt, unter anderem die Einstellungskriterien für das Personal. „Das ist zunächst verständlich, um überhaupt Einrichtungen an den Start zu bekommen“, sagte die Linken-Politikerin Nagel. „Für die qualifizierte Betreuung der Jugendlichen ist das allerdings nachteilig. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete sind besonders schutzbedürftig und brauchen nach ihrer langen, beschwerlichen Flucht eine gute Unterbringung, Versorgung und Betreuung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen