Unabhängigkeitstag in der Ukraine: Der ganz normale Wahnsinn
In der ukrainischen Hauptstadt geht der Alltag weiter. Doch der Krieg ist allgegenwärtig. Offizielle Stimmen sparen nicht mit Pathos.
Es ist ein heißer Sommertag in Kiew. Wie jeden anderen Tag auch bieten hier am Sewastopolplatz am Stadtrand von Kiew Verkäuferinnen ihre Lebensmittel feil: Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, Gurken und Pfirsiche finden sich auf und neben den Ständen. Die Pfirsiche seien wohl aus Odessa, sagt die Verkäuferin. Klar. Bisher kamen sie aus Cherson. Aber seit der Besetzung von Cherson wird dieses Gebiet wohl an die Russen liefern müssen.
Am Kreisverkehr am Sewastopolplatz staut sich der Verkehr. Schuld ist ein Pkw-Fahrer, der mitten auf der Straße aussteigt, um einen LkwFahrer anzuschreien, was ihm wohl einfalle, ihm einfach die Vorfahrt zu nehmen.
Auf den Kinderspielplätzen tollen Kinder. Noch sind die Schulen leer, am 1. September werden die Spielplätze leer sein. Cafés und Restaurants sind alle geöffnet. Auch wenn an diesem Tag die Sirenen häufiger heulen als an anderen Tagen, scheint das für niemanden ein Grund zu sein, seinen oder ihren Schritt zu beschleunigen. Kiew ist nicht Charkiw, wo wirklich scharf geschossen wird. In Kiew hört man seit Wochen zwar Alarm, aber schon lange keine Raketen mehr.
Die Sirenen werden eher als störend wahrgenommen. Mein EDV-Mann ruft an. Er habe leider wegen der Kriegsangst Lieferschwierigkeiten. Seine Partner würden derzeit nicht arbeiten, ich solle mich mit der neuen Tastatur noch etwas gedulden. Faule Ausrede.
Hauptsache kein Krieg
Irgendwo an der Straße steht ein Bus, eine kleine Traube von Menschen steht davor. Der Bus ist leer und die Menschen davor sind missmutig. Der Fahrer hatte wohl, kaum dass die Sirenen zu heulen begonnen hatten, angehalten, alle zum Aussteigen aufgefordert, ihnen gesagt, sie sollten den nächsten Schutzraum aufsuchen. „Ich habe den Fahrer gefragt, wo denn der nächste Schutzraum sei“, sagt eine schlecht gelaunte Rentnerin. „Und er hat geantwortet, das wisse er auch nicht.“
Es sei nun mal Vorschrift, bei Luftalarm anzuhalten und die Passagiere aufzufordern, zum nächsten Schutzraum zu gehen, habe er noch hinzugefügt. „Wenn ich schneller nach Hause käme, wäre das besser für meine Sicherheit, als wenn ich jetzt hier eine halbe Stunde am Straßenrand rumstehe“, schimpft die Frau.
Auf den Tag der Unabhängigkeit angesprochen sagt sie, dass sie sich über den Feiertag freue, und eigentlich nur einen einzigen Wunsch habe: Hauptsache, wir haben keinen Krieg, und sie spricht über die Verwundeten, die ihr so leid täten.
„Und ich wünsche mir“, sagt eine junge Frau, „dass wir wirklich unabhängig sind, wir als Volk. Und auch für mich selbst wünsche ich mir Unabhängigkeit. Und, ja, ich wünsche mir den Sieg der Ukraine gegen den russischen Aggressor.“
Hauptsache Sieg
Doch während vor dem Bus und andernorts noch diskutiert wird, was wichtiger ist, ein Ende des Krieges oder ein ukrainischer Sieg, gibt es im öffentlichen Raum keine Zweifel: Hier setzt man auf Sieg.
„Was bedeutet das Ende des Krieges für uns?“, fragt sich Präsident Selenski in einer Ansprache aus Anlass des Unabhängigkeitstags an das Volk. „Früher sagten wir,Frieden', jetzt sagen wir,Sieg'. Wir setzen uns nicht voller Angst und mit einer Waffe an der Schläfe an den Verhandlungstisch. Uns machen nicht die Schützengräben Angst. Was wir fürchten, sind die Fesseln“, sagte der Präsident und betonte, dass die Ukraine die Krim und den Donbass zurückholen werde.
Ähnlich äußerte sich auch der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschnyj, in einem Video anlässlich des Unabhängigkeitstags, in dem er mit einem Soldaten über die Wichtigkeit eines Sieges spricht.
„Unsere Unabhängigkeit ist ein Geschenk an uns. Und echte Unabhängigkeit ist mit Blut gewaschen“, sagt der Soldat. Wer für sie kämpft, kennt ihren Geschmack. „Es ist der Geschmack von Erde, von Blut und Tod, der die Luft durchdringt“, antwortet Saluschnyj.
Hoffnung auf neue Verhandlungen
Und der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, Alexej Danilow, kündigte die Zerstörung der Brücke auf die Krim an. Es gebe nur eine Möglichkeit, diese Brücke zu retten, zitiert focus.ua Danilow. Nämlich dann, wenn man die Brücke für einen Abzug der russischen Truppen aus der Krim nutze. Verhandlungen mit Russland sind derzeit für die Ukraine kein Thema. Die seien nur möglich, so Präsident Selenski, wenn die russischen Truppen die besetzten Gebiete verlassen würden.
Gleichzeitig berichtet David Arachamia, Abgeordneter der Regierungspartei Diener des Volkes, Russland sondiere derzeit, ob es wieder eine Möglichkeit für Verhandlungen gebe. Offensichtlich sehe sich Russland durch die Erfolge der ukrainischen Armee zu diesem Vorgehen veranlasst, so Arachamia, der bei den inzwischen eingestellten direkten Gesprächen mit Russland ukrainischer Verhandlungsführer war.
Während es in Kiew nach wie vor ruhig ist, klagen andere Städte über neue Opfer. So sind in der letzten Nacht die Städte Saporischschja, Charkiw, Nikolajew und Dnipro mit Raketen beschossen worden, berichtet strana.news.
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