Umzug in die Ukraine: Adieu, Krim!
3.000 Menschen haben mittlerweile die Krim verlassen. Die Familie Sasin gehört dazu. Russland war für sie keine Option. Doch der Neustart ist holprig.
BORYNJA taz | An diesem Tag in den Karpaten schlägt das Wetter apriltypische Kapriolen. Es ist bitterkalt, als Michail Sasin seine abgewetzte Lederjacke überzieht, die graue Strickmütze aufsetzt und zum Kiosk läuft, um ein paar Rollen Klopapier zu kaufen. Ein beißender Wind weht ihm entgegen und wirbelt kleine Schneeflocken herum, die langsam fallen und sich in Schlamm und Regenpfützen auf der mit Löchern übersäten Straße auflösen. Sarima Sasin und die Kinder sind im Haus geblieben. Es ist ein großes, zweistöckiges Haus aus weißen Ziegeln, ungestrichen, wie man es in der späten Sowjetzeit gebaut hat. Das Krankenhaus von Borynja, einem kleinen Ort in den ukrainischen Karpaten. Von hier aus sind es nur wenige Kilometer bis zur polnischen Grenze und rund 50 bis zur slowakischen.
Borynja liegt im Land der Bojken, einer ethnischen ukrainischen Gruppe, die an den Hängen der westlichen Karpaten lebt. Borynja, rund 1.500 Einwohner, eigenes Wappen, bereits 1552 zum ersten Mal schriftlich erwähnt, gehörte lange Zeit zu Polen, dann zum österreichischen Galizien. Nach dem Ersten Weltkrieg lebten hier über 300 Juden. 1939 kamen die Sowjets, zwei Jahre später die Deutschen, 1944 wieder die Sowjets. Von der jüdischen Bevölkerung und ihrer Synagoge ist keine Spur geblieben.
Michail Sasin ist ethnischer Russe, alle nennen ihn Mischa, seine Frau Sarima ist Tatarin. Das Paar hat sieben Kinder, die älteste Tochter ist gerade fünfzehn geworden, die jüngste ist knapp anderthalb Jahre alt. Dazwischen gibt es fünf Söhne, fast alle im Schulalter.
Es ist schon über einen Monat her, dass die Sasins die Krim verlassen haben. Kumowo war auch nicht der Nabel der Welt. Ein kleines Dorf im Nordosten der Halbinsel, das bis 1944, also bis zur Deportation der Krimtataren, tatarisch war und Eski Quizilbay hieß. Mischa arbeitete als Klempner in einem Agrarbetrieb, wollte sich aber der Käseherstellung widmen. Einige Käsesorten produzierte er in kleineren Mengen zu Hause. Ein typischer Bauernhof – eine Kuh, ein paar Kälber und Schafe, eine Ziege. Die Familie lebte von der Hand in den Mund. Im Winter machten sie Schulden, im Sommer konnten sie sie begleichen. Am schlimmsten war die Korruption. „Unter Janukowitsch wurde es besonders hart“, erinnert sich Sarima Sasin. „Selbst für das Kindergeld musste ich zweimal im Jahr den Beamten schmieren.“
Es ist Nachmittag in Borynja. Immer wieder setzt Schneeregen ein. Vom Fenster aus sieht man einen rostigen Wasserturm, dahinter eine romantische Berglandschaft, in Dunst gehüllt. Das Krankenhauszimmer liegt im Halbdunkel, die Sasins schalten das Licht nicht ein. Das Zimmer ist ziemlich geräumig, fünf einfache Betten stehen da, mit altem Bettzeug überzogen. Die Tür fliegt ständig auf und zu. Der fünfjährige Nasim hat offenbar Spaß daran, zwischen den beiden Zimmern, die die Familie im Krankenhaus belegt, hin und her zu flitzen.
„Die Kinder sind mit einer schlimmen Erkältung und Bronchitis zu uns gekommen“, berichtet eine Krankenschwester. „Nun sind sie eigentlich wieder gesund. Aber wo sollen sie hin? Wir haben hier genug Platz, viele Patienten gibt es im Moment eh nicht.“ Das Personal füttert die Familie durch – es bringt Brot, Käse oder Marmelade mit.
„Weg von hier!“
Die Sasins haben sich nie für Politik interessiert. „Vielleicht haben wir den Fernseher zu spät eingeschaltet. Es gab halt nie Zeit dafür“, erinnert sich Michail Sasin. Aber als er dann im Fernsehen die Bilder mit den bewaffneten „grünen Männchen ohne Erkennungszeichen“ gesehen hat, die Flugplätze und Stützpunkte der ukrainischen Armee auf der Krim blockierten, wurde ihm unheimlich. Das kann nichts Gutes bringen, dachte er. Sofort schoss ihm durch den Kopf: „Weg von hier!
Wenn die Halbinsel vom Festland abgeschnitten wird, kommt es zur Versorgungsengpässen. Um die Leute in der Steppe kümmert sich ohnehin keiner, bald kann ich meine Familie gar nicht ernähren.“ Im Fernsehen hörte er den neuen Krim-Premier Aksjonow sagen: „Wem es hier nicht gefällt, der kann die Krim verlassen.“ Mischa gefiel es hier nicht. Doch Russland war keine Option für ihn, den Russen. Und für seine Frau Sarima schon gar nicht.
Ihre Großeltern waren im Mai 1944 von der Krim deportiert worden, die Eltern wurden in Usbekistan geboren, Sarima hat dort die ersten acht Jahre ihres Lebens verbracht. Als die Familie kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion auf die Krim zurückkehrte, spürte sie zunächst die Feindseligkeit der russischen Bevölkerung gegen die Tataren. Doch mit der Zeit normalisierten sich die Beziehungen. „Dann kam Putin und drang brutal in unser Leben ein. Zu diesem sogenannten Referendum sind ja nur 40 Prozent hingegangen! Die Tataren haben gar nicht abgestimmt, die Ukrainer nicht, und auch von den Russen sind viele zu Hause geblieben“, sagt Sarima mit einem Zittern in der Stimme.
Lia, die kleine Tochter, wacht auf und beginnt zu quengeln. Evelina, die Älteste, die bisher aufmerksam zugehört hat, nimmt sie auf den Schoss. Ob sie Sehnsucht nach der Krim habe? Nein, gar nicht. Mit einigen Freundinnen steht sie sowieso in Kontakt, ansonsten habe sie neue Freunde gefunden — auf dem Maidan in Kiew.
Der Winter ist zu Ende
Hals über Kopf packte die Familie ihre Siebensachen zusammen, zwei Taschen pro Person. Das Vieh wurde an den Fleischer zum Spottpreis vertickt, und als sie in Dschankoj in den Zug nach Kiew stiegen, rollte schon schweres Kriegsgerät über die Schienen. Der Winter war zu Ende. Vielleicht war dies ja der beste Zeitpunkt für einen Neuanfang.
Ein paar Tage lebten die Sasins auf dem Maidan, im Ukrainischen Haus bekam die Familie eine Ecke. Dann hörten sie, dass die Region Lemberg Flüchtlinge von der Krim aufnimmt; freiwillige Helfer vermittelten die Kontakte. Die Sasins gingen zunächst nach Truskawez, wo Mischa erfolglos Arbeit suchte. Dann kam das Angebot: ein leer stehendes Bauernhaus in der Nähe von Borynja nebst zwei Kühen.
„Als ich zur Besichtigung hierherkam, habe ich schon gemerkt, wie kalt es war“, erzählt Mischa. „Klar, dachte ich, hier hat ja monatelang keiner gewohnt.“ Doch nach Bezug des Hauses stellte sich heraus, dass der Ofen mehr Qualm als Wärme produziert. Die nasse Kälte setzte allen zu, die ganze Familie landete bald im Krankenhaus.
Keine Arbeit in der Region
„Hier werden Sie es nicht aushalten“, sagt die Nachbarin Olga. Sie trägt schmutzige Gummistiefel und eine dunkelblauem, durchlöcherte Steppjacke. Ein paar graue Haare stechen unter dem Tuch hervor, das sie wie ein Bandana am Hinterkopf zusammengebunden trägt. Schwer zu sagen, wie alt sie ist. Vielleicht fünfzig, vielleicht auch zehn Jahre jünger. „Nur wer hier geboren wurde, kann überleben“, meint sie. Die Familie komme ja aus einem warmen Klima. „Wir würden schon gerne helfen, aber was sollen die hier anfangen? Soll Mischa etwa illegal Bäume fällen? Arbeit gibt’s hier keine.“
Auch mit den Kühen wird es wohl nichts. Die Kühe in Borynja geben gerade mal sieben Liter Milch statt fünfzehn bis zwanzig wie die auf der Krim, sagt Michail Sasin. „Da verdient man gar nichts.“
Vor dem Krankenhaus herrscht nun ein bisschen Aufregung. Die Malteser aus Lemberg haben für die Familie kleine Hilfspakete mitgebracht – Windeln, Hygieneartikel, Medikamente, Kinderkleidung, Schulsachen. Sarima Sasin freut sich vor allem über die Arzneimittel. Die Familie ist im Moment völlig auf fremde Hilfe angewiesen, denn das Geld aus dem Viehverkauf ist fast aufgebraucht, Kindergeld bekommen sie im Moment keins – die Behörden auf der Krim weigern sich, ihre Unterlagen nach Lemberg zu schicken.
Sie müssen weiterziehen
Mischa will nun in einer wärmeren Gegend sein Glück versuchen. In Transkarpatien vielleicht oder in Chmelnyzkyj. An seinem Traum vom Leben als freier Landwirt hält er weiter fest. „Ich würde so gerne Käse produzieren.“ Im Krankenhaus von Borynja ist nun wie überall die Fernheizung abgestellt worden, die Heizsaison ist zu Ende. Das russische Gas ist teuer, man muss sparen. Das heißt, die Sasins müssen bald weg, wenn sie nicht wollen, dass die Kinder wieder krank werden. Doch zurück auf die Krim wollen sie nicht. Dort könne man im Moment nicht mal Obst auf dem Markt kaufen, habe Sarimas Schwester berichtet, die auf der Krim geblieben ist.
Die Sasins können die Krimbewohner, die nach Russland wollen, nicht verstehen. „Wenn du dort, in dieser Diktatur, kein Geld hast, bist du niemand“, sagt Sarima. „Was soll denn in Russland besser sein? Wir haben dort Verwandte und Bekannte, wir wissen, wie die Menschen dort leben. Ich werde nie ins Russland Putins gehen.“ Mischa schaut zum Fenster hinaus, wo die Wolken, vom Wind gepeitscht, gerade von links nach rechts vorbeiziehen, und fügt nachdenklich hinzu: „Viele glauben, sie würden in die Sowjetunion mit ihrer 3-Rubel-Wurst zurückkehren. Es ist aber ein anderes Land geworden.“
Mittlerweile haben rund 3.000 Menschen die Krim verlassen – die meisten sind Krimtataren, viele aber auch ukrainische und sogar russische Familien. Darunter befinden sich ebenso Maidan-Aktivisten wie Menschen, die sich nie für die Politik interessiert haben. Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Verhältnissen und aus allen Teilen der Krim. Informatiker, Landwirte, Dozenten, Arbeiter und Arbeitslose, Juristen, Studenten und Unternehmer. Strenggläubige Muslime, säkularisierte Muslime, orthodoxe Christen, Katholiken, Protestanten und Atheisten. Menschen aus armen Verhältnissen und gestandene Mittelständler.
Einige haben direkte Drohungen bekommen, andere wurden eingeschüchtert, viele hatten Angst vor Gewalt und Hass gegen Andersdenkende. Bei vielen tatarischen Familien sind die Männer auf der Krim geblieben, um die Häuser zu bewachen. Einige wollen zurückkehren, einige auswandern. Andere werden versuchen, ein neues Leben in der Ukraine zu beginnen. Doch eines ist allen gemeinsam: Sie wissen nicht, was die Zukunft bringt.
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