Umstrittene Documenta-Filme: Unbequeme Archive
Documenta-Filme wie die „Tokyo Reels“ offenbaren asymmetrische Machtverhältnisse, die die Welt strukturieren. Sie zensieren zu wollen, ist peinlich.
I m Strudel der Antisemitismusvorwürfe, die die documenta fifteen vom ersten Tag an prägten, wird nun der Ruf laut, die Vorführung von zwanzig Filmen, die den palästinensischen Kampf in den 1960er Jahren dokumentieren, wegen „antisemitischer und terroristischer Gewalt“ zu stoppen. Diese Filme, präsentiert vom Kollektiv Subversive Films, sind in erster Linie ein Archiv. Zweifellos ein unbequemes und beunruhigendes.
Iain Chambers ist ein Mitglied des Kollektivs „Jimmie Durham & A Stick in the Forest by the Side of the Road“, das an der documenta fifteen teilnimmt, und Professor für Kulturelle und Postkoloniale Studien an der Universität von Neapel. Sein Gastkommentar wurde aus dem Englischen übersetzt von Christina Schott.
Die 1960er und 1970er waren die Jahre des bewaffneten antikolonialen Kampfes in Kuba, Algerien, Vietnam, Südafrika, Angola, Mosambik, Palästina und vielen anderen Ländern weltweit. Es waren auch jene Jahre, in denen Jean-Luc Godard in seinem Streben nach einem militanten Kino die Dziga Vertov Group gründete. Antikolonialer Kampf und Film unterstrichen damals, was Walter Benjamin die kommunikative Demokratie des Kinos nannte.
Der peinliche Zensurversuch zeigt ein grundsätzliches Versäumnis, sich mit der Herausforderung auseinanderzusetzen, die diese Filme darstellen: als alternative Erzählungen und Geschichten von Palästina-Israel und vor allem als Anfechtung des Status quo einer selbstgefälligen Bilderökonomie. Solche Bilder befreien uns von der illusorischen Kohärenz von Ausgewogenheit und Neutralität, wie sie von CNN und BBC News aufrechterhalten wird. Sie offenbaren die asymmetrischen Machtverhältnisse, die die Welt strukturieren.
Unbändige Archive öffnen die Geschichte für eine andere Darstellung von Zeit und Ort. Sie erinnern uns eindringlich daran, dass jenseits der deutschen und europäischen Schuld am Holocaust weitere Verantwortlichkeiten für globalen Völkermord liegen – von Amerika bis Afrika und Asien – und ihre zentrale Bedeutung für die koloniale Verfassung der westlichen Moderne, wie Hannah Arendt, Aimé Césaire und Frantz Fanon alle betonten. In diesem globalen Archiv können die „Tokyo Reels“ nicht als antisemitisch gegeißelt werden. Ihre Bilder sprengen die Gegenwart mit einer Vergangenheit, die uns aus der Zukunft entgegenkommt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links